Eberhard Giese: Der Kinoschund und die Jugend [1919/20]

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Quelle: Jeanpaul Goergen
Deckblatt

Eberhard Wolfgang Giese (1884-1968) war in Breslau und Görlitz im Jugendschutz und der Wohlfahrtspflege tätig. In seiner undatierten, vermutlich Ende 1919 erschienenen Broschüre "Der Kinoschund und die Jugend" stellt er sich als "Vortruppmensch" vor, der sich seit Jahren an den "deutschen Lebensreformbestrebungen" (S. 14) beteilige. Anlass für seine Schrift waren offenbar Kundgebungen der Breslauer Wandervögel gegen "unsittliche Zustände". Giese dokumentiert zwei ihrer Flugblätter, in denen es heißt, die heutige Gesellschaft verfaule an Leib und Seele: "Beweis: Kino, 'Kultur'filme, Negertänze (Tango, Fox-Trott) usw." (S. 13) Sie wollten daher den Kinos Kohle und Strom abstellen oder eine Kino-Aufsicht unter Beteiligung von Jugendlichen einrichten. Ferner verlangten sie eine künstlerische Kino-Reklame, die Mitarbeit "wirklicher Künstler" am Film und den Einsatz des Kinos als Volksbildungsmittel, "vorzugsweise Verwendung der bestehenden Lichtbild-Theater zu Vorführungen für Schulen, Hochschulen, Bildungsvereinen u.a." (S. 14)

Als die größte für die Jugend ausgehende Gefahr betrachtet Giese das mehraktige Kino-Drama, das fast ausnahmslos als "Schund- oder Schauerfilm" anzusprechen sei und das ebenso wie die sogenannten Aufklärungsfilme "die niedrigsten Triebe der Masse" adressiere. Genau darauf komme es den Filmunternehmern an, nicht etwa darauf, "den Wissensdurst im Volke zu stillen." Am gefährlichsten gerade für das jugendliche Gemüt sei die Suggestivkraft des Kinos und die dort dargestellten "Verbrechen, Verführungen, Schlechtigkeiten, Rechtsverdrehungen." (S. 5)

Anschließend fragt Giese, was dagegen unternommen werden könne. Einer Sozialisierung der Kinos erteilt er eine Absage, da dadurch allein noch keine Veredelung des Geschmacks der Zuschauer erreicht werde. Auch Vorträge und Belehrungen würden keine Abhilfe schaffen. Besserungsmöglichkeiten erkennt er im Lehr- und Industriefilm sowie dem wissenschaftlichen Film; die Ufa und die Deutsche Lichtbild-Gesellschaft hätten hier bereits Tüchtiges geleistet. Er lobt die Erfindung der Stillstandvorrichtung, mit der es möglich sei, den Film an einer beliebigen Stelle anzuhalten, um Erklärungen abzugeben. Auf den Einwand, es gebe noch kaum Lehrfilme, führt er eine lange Liste von wissenschaftlichen Filmen der Ufa an, von "Einführung in die Planimetrie"  bis "Folgen der Hungerblockade".  Lehrfilme dürften allerdings nicht von "trockenen Pedanten", sondern von "lebendigen Persönlichkeiten" vorgestellt werden. "Die Jugendlichen müssten selbst Gelegenheit haben, an dem Wunderkasten zu drehen so wie wir einst als Kinder an Großvaters Guckkasten drehen durften."

Giese fordert außerdem, über eine noch zu gründende staatliche Lichtbilderstelle die Schulen mit Filmen zu versorgen; diese sollte von einer aus der Filmindustrie stammenden Persönlichkeit geleitet werden. Außerdem wünscht er sich eine städtische Film-Prüfungsstelle sowie ein Reformkino mit einem hauptamtlichen Leiter, "das dem großen Publikum und natürlich der Jugend zugänglich ist und in bewussten Wettbewerb mit den übrigen Unternehmen tritt." (S. 11) Ein solches Kino müsse aber auch das gute Drama pflegen, denn nur allein mit Lehr- und Industriefilmen könne es in der Konkurrenz mit den anderen Kinos nicht bestehen. Um diese Ziele zu erreichen, setzt Giese seine ganzen Hoffnungen auf die Jugend, die man nicht aufhalten dürfe, "wenn sie durch die Straßen stürmt und gegen die Kinoseuche wütet." (S. 13)

Traub/Lavies geben fälschlich Bielefeld als Erscheinungsort der undatierten Broschüre an und datieren auf 1920. Das Exemplar in der Deutschen Nationalbibliothek ist handschriftlich auf [1919] datiert; auch im Text wird mehrfach auf das Jahr 1919 hingewiesen. Das von Giese erwähnte Reform-Kino in Jena eröffnete zwar erst im April 1920, diesbezügliche Pläne wurden aber bereits Ende 1919 diskutiert.

(Jeanpaul Goergen, August 2022)

Eberhard Giese: Der Kinoschund und die Jugend. [Breslau]: Verlag der Volkswacht-Buchhandlung, o.J. [1919/20], 16 Seiten
Traub/Lavies: 70
dnb: http://d-nb.info/573460701