Anna Schieber: Zwei Kino-Konferenzen (1919)

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Quelle: Jeanpaul Goergen
Buchcover

Die erfolgreiche schwäbische Schriftstellerin Anna Schieber (1867-1945), Autorin zahlreicher Romane und Erzählungen, engagiert sich nach Ende des Ersten Weltkriegs auch in der Kinoreformbewegung. Ihr undatiertes, vermutlich aber 1919 erschienenes achtseitiges Pamphlet "Zwei Kino-Konferenzen" weist zudem keinen Herausgeber und auch keine Preisangabe auf. Vermutlich wurde es kostenlos als Argumentationshilfe für Kinoreformer in kirchlichen Kreisen verteilt. Die Schrift ist eine von drei Monografien zur Kinoreform, die 1919 erscheinen.

Schieber kleidet die Argumente der Kinoreformer gegen die von ihnen bekämpften "Schundfilme" in eine Fabel mit religiösem Anstrich. Im ersten, "unter der Erde" spielenden Kapitel hecken die Teufel einen Plan aus, um die wertvolle Erfindung des Kinos für ihre Zwecke dienstbar zu machen. Im zweiten Kapitel erleben wir eine weitere Kino-Konferenz, diesmal "auf der Erde", in der die Teufel das Gelingen ihres Plans feiern.

Die Autorin stellt sich als Freundin des Kinos vor. Mit der Erfindung des Kinematographen sei der menschliche Geist "wieder einmal um ein ungeheures Stück vorwärts gekommen" (S. 1). Sie ist auch von dessen Integrationskraft überzeugt: "Es war eine Verbindung entdeckt, die das Band stärker machen konnte, das die Welt zusammenhielt. Es war etwas von Weite und Wahrheit und Liebe in der neuen Erfindung" (S. 1).

Zur gleichen Zeit aber ruft der alte Teufel in der Unterwelt eine Konferenz ein. Den Kampf um die Schundliteratur hat er verloren, jetzt ging es darum, eine neue, "echt teufelhäftige Idee in der Reinkultur" durchzusetzen. Da kommt ein Teufel als Berichterstatter von der Erde zurück und erzählt von der wunderbaren neuen Erfindung des Kinos, nach der die Idealisten bereits ihre Hände austreckten, um sie in den Dienst der Volksbildung und des allgemeinen Friedens zu stellen. Der alte Teufel befürchtet das Schlimmste für seine Ziele: "Sie werden jetzt da oben die Jugend hinführen und die lernbegierigen Arbeiter und alle Bildungshungrigen und werden ihnen die ganze weite Welt zeigen [...] und allem werden sie sich verwandt und verschwistert fühlen, weil sie es kennen" (S. 2). Das aber dürfe nicht sein und so schlägt er vor, die Erfindung aufzukaufen und im teuflischen Sinne auszubauen. "Vor allen Dingen muß es großkapitalistisch gemacht werden [...]. Da uns das Kapital ja ohnehin größtenteils zur Verfügung steht, so dürfte das nicht schwer sein". Anschließend machen wir "etwas ganz anderes aus dem Ding" (S. 3), so dass der Erfinder sein eigenes Kind nicht wiedererkenne.

Die zweite Kino-Konferenz findet 1919 auf der Erde statt, im Hinterzimmer eines Restaurants in Süddeutschland. Die teilnehmenden Teufel erschienen nun in ihrem menschlichen Gewand, der eine als Intellektueller, der andere als Unternehmer. Der erste Schritt ihres Plans, das Kino als Geldmaschine zu etablieren, sei voll aufgegangen, so der Referent, nachdem er den Geldgebern gesagt habe, "daß sie nicht etwa mit den Idealen in der Menschenbrust, der mühsamen Arbeit an der Verbesserung des Charakters und Willens zu rechnen haben, oder wenn, dann nur andeutungsweise und zum Schein, sozusagen als Randverzierung, sondern hauptsächlich mit den niederen Trieben, die, gehörig gedüngt und begossen, ins Ungemessene zu wuchern befähigt seien" (3 f).

In einem zweiten Schritt habe er ihnen den Gedanken nahegelegt, nicht die Wirklichkeit aufzunehmen, sondern Erdachtes, "also erdachte Not, erdachte Pracht, erdachte menschliche Bosheiten, Leidenschaften, Taten und Werke, aber alles unter dem Schein der Wirklichkeit" (S. 4). So würde unmittelbar die Phantasie der Zuschauer angesprochen, da sie dieses Geschehen als die Wirklichkeit ansehen würden.

Drittens habe er die Filmproduzenten angespornt, ihrer Erfindungsgabe freien Lauf zu lassen: "Also es mußten erfunden werden: Szenen von unerhört aufreizender Wirkung, erotische, grausame, gespensterhafte, solche, die erschlaffen, und solche, die jedes Gefühl aufpeitschen: Haß, Wut, Sehnsucht, Neid, Gier, Mordlust, Wollust, Begierde nach Raub, Begierde nach Sinnenkitzel, daneben zur Überleitung auch sanfteres, dies aber möglichst unklar, Gefühlsbrei, Komik mit etwas Zynik vermischt." (S. 4)

Vor allem sei es den vielen Teufeln darum gegangen, alte Werte neu zu definieren. Besonders die Jugendlichen hätten nun lernen müssen, "Liebe sei nur das Schwüle, kitzlige, Verbotene, eigentlich nur die Annäherung von Leib zu Leib" (S. 4). Die Teufel machten die bürgerliche Ordnung lächerlich, indem Polizisten als komische Figuren und Beamten als Heuchler dargestellt werden, die selbst alles Verbotene täten. Da die Kinoteufel die gesellschaftlichen Gegensätze übertrieben krass darstellten, wurde auch "der für uns so erfreuliche Klassenhaß" (S. 5) gut unterstützt.

Einer der Teilnehmer der Teufels-Konferenz berichtet, dass er hauptsächlich auf die Nerven einwirke. Besonders die Frauen würden durch Schauerdramen "nervös erregt werden, denn in diesem Zustand sind sie am passendsten für unsere Zwecke" (S. 6). Andere Redner heben die zahlreichen "Halb- und Dreiviertelsnacktheiten" (S. 6) in den Aufklärungsfilmen als ihre Leistungen hervor. Allerdings sei es besser, so ein kritischer Einwand, echte Künstler und Dichter für diese Stoffe zu gewinnen, um auch das bessere Publikum für die teuflischen Ziele zu gewinnen. Das "Grobsinnliche" (S. 6) würde schon bei den Zuschauern hängen bleiben.

Befriedigt stellt der Hauptredner fest, dass der Kampf gegen die von ihnen angestifteten Umtriebe in Deutschland weitgehend eingestellt sei, die Kinoreformbewegung als schärfster Gegner ziemlich erschlafft sei und das Volk nun "nach der Pfeife der internationalen Großkapitalisten" (S. 7) tanze. Allerdings gäbe es derzeit ein Problem. Man habe zwar dem Volk erfolgreich vermitteln können, dass es die von den Teufeln besonders gehasste Zensur abgeschafft hat, allerdings halte ein "Bundesstäätchen mit einer besonders schwerfälligen Bevölkerung" (S. 7) weiterhin an seinem Zensurgesetz fest. Es gäbe sogar einige, die sich gegen die Abschaffung der Zensur wehren würden. "Sie sagen, sie haben ein Volksgewissen, eine Art Verantwortlichkeitsgefühl. Es dürfe nicht sein, daß die Volkskraft, die geistige Gesundheit, Moral usw. am Kino ganz verkomme." (S. 7)

Die Teufel haben aber schon reagiert: Sie haben die Öffentlichkeit zum Schutz des "Theater des kleinen Mannes" aufgerufen und "bewerfen alle mit Dreck, die gegen uns auftreten" (S. 8). Auch des Teufels Großmutter beruhigt: Es seien doch nur ganz wenige, die gegen die Teufel antreten, die große Masse verhalte sich gleichgültig. "Noch eine Generation oder höchstens zwei, dann ist der schönste Stinksumpf fertig. [...] Die Gleichgültigen, das sind noch immer unsere besten Helfer gewesen" (S. 8). Nach diesen Worten geht die Versammlung zuversichtlich und getröstet auseinander.

(Jeanpaul Goergen, Dezember 2018)

Anna Schieber: Zwei Kino-Konferenzen. Stuttgart: J.F. Steinkopf, o.J. [1919], 8 Seiten
Traub/Lavies: 165
dnb: http://d-nb.info/576004448

Reprint in: Ulrich Gaier, Kurt Widmaier, Wolfgang Schürle (Hg.): Schwabenspiegel. Literatur vom Neckar bis zum Bodensee 1800-1950. Lesebuch 6 [Eggingen]: [Isele], 2007, S. 211-218
dnb: http://d-nb.info/985706864