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Alle Fotos (5)Biografie
Hans Jürgen Syberberg wurde am 8. Dezember 1935 in Nossendorf (Vorpommern) geboren und wuchs als Sohn eines Gutsbesitzers auf dem Land auf. Nach der Enteignung des Gutes im Jahr 1947 zog die Familie nach Rostock, wo der Vater einen Fotoladen übernahm – was zu Syberbergs ersten Berührungspunkten mit dem Medium Film führte.
Noch als Schüler in der damaligen DDR erhielt er die Erlaubnis Bertolt Brechts, das Berliner Ensemble zu besuchen, wo er 1952/53 mit einer 8mm-Kamera die Proben zu "Herr Puntila und sein Knecht Matti" und "Die Mutter" sowie eine komplette Aufführung des "Urfaust" filmte. Die Filme wurden 1970 auf 35mm umkopiert und unter dem Titel "Nach meinem letzten Umzug" veröffentlicht.
Später betonte Syberberg stets die wegweisende Bedeutung dieser frühen Jahre, nicht zuletzt wegen der ablehnenden Haltung seines Vaters gegenüber dem NS-Regime. In seinem Buch "Die freudlose Gesellschaft. Notizen aus dem letzten Jahr." schrieb er 1981: "Ich lebte außerhalb der Nazi-Gesellschaft und darf mich heute unbeschädigt von ihren Folgen bewegen, immunisiert, ohne mich durch protestierende Profilierung von den Eltern absetzen zu müssen und ohne Racheerziehung gegen die ehemaligen Verfolger." Aber auch seine Jugendjahre in der DDR während ihrer Aufbauphase waren eine Erfahrung, die sich radikal von der amerikanisch geprägten Lebenswelt der westdeutschen Jugend (und damit der Generation des Neuen deutschen Films) unterschied.
1953 flüchtete Syberberg aus der DDR nach Westdeutschland, wo er sein Abitur machte. Von 1956 bis 1962 studierte er Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte; 1963 promovierte er in München mit dem Thema "Zum Drama Friedrich Dürrenmatts: Zwei Modellinterpretationen zur Wesensdeutung des modernen Dramas".
1963 begann Syberberg, als freier Mitarbeiter für den Bayerischen Rundfunk zu arbeiten: bis 1966 realisierte er dort 185 aktuelle Beiträge und Kurzdokumentationen. Markant waren insbesondere seine dokumentarischen "Charakterporträts" über Fritz Kortner, Romy Schneider, die Grafen Pocci – eine heruntergekommene, exzentrische Familie des bayerischen Adels – und den bayerischen "Porno-König" Alois Brummer.
Seinen ersten Kinofilm drehte er mit "Scarabea – Wieviel Erde braucht der Mensch?" (1968), ein bunter, oft bizarrer und surrealistischer Film mit drastischen Gewaltszenen, basierend auf einer Tolstoi-Erzählung, die den Untertitel bildet. 1970 folgte "San Domingo", der lose an Kleists gleichnamige Novelle anknüpfte und die Handlung ins Milieu von Drogensüchtigen, Rockern und revolutionären Student*innen verlegt und ein stellenweise fast dokumentarisches Porträt einiger Quellen des Terrorismus in der BRD zeichnet.
Syberbergs bekannteste Werke sind die Filme seiner sogenannten "Deutschen Trilogie", bestehend aus "Ludwig – Requiem für einen jungfräulichen König" (1972), "Karl May" (1974) und "Hitler, ein Film aus Deutschland" (1977). Als eine Art "Begleitwerke" entstanden parallel "Theodor Hierneis" oder: "Wie man ehem. Hofkoch wird" (1972) und "Winifred Wagner und die Geschichte des Hauses Wahnfried 1914-1975" (1975).
Syberbergs Trilogie lässt sich als einer der konsequentesten filmischen Versuche betrachten, sich gleichermaßen intellektuell und künstlerisch mit der deutschen Psyche und den verschlungenen Wegen deutscher Geschichte auseinanderzusetzen.
In der deutschen Filmszene blieb Syberberg gleichwohl ein absoluter Außenseiter – in diversen Artikeln und offenen Briefen sowie mehreren Büchern stets im intellektuellen Kampf mit einem Film-Establishment, das er als verschworene, feindlich gesinnte Gemeinschaft betrachtete. Im Ausland, vor allem Frankreich und den USA, erhielten seine Filme mehr Lob und Anerkennung als in der Bundesrepublik – in seinem Buch "Die freudlose Gesellschaft" schrieb er: "Es gibt Leute, die stehen auf der schwarzen Liste unserer Zeit in diesem Land, ich rechne mich dazu." Dafür erhielt er 1978 in London für "Hitler, ein Film aus Deutschland" den British Film Institute Award als "most original and imaginative film introduced at the National Film Theatre during the year 1977".
Als Grund, warum seine Filme vor allem im Ausland angemessen gewürdigt wurden, vermutete Syberberg deren eigenwillige Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte. Tatsächlich widersprachen seine künstlerischen Versuche der "Vergangenheitsbewältigung" dem allgemein üblichen und akzeptierten, stark analytisch-wissenschaftlichem Ansatz, insbesondere mit Blick auf die NS-Zeit und Adolf Hitler. Syberbergs These war, dass das übliche Bild des Nationalsozialismus als "irrational" und "rechtsradikal" zur Beherrschung des westdeutschen Kultur- und Geisteslebens durch ein "aufgeklärtes" linkes Establishment geführt habe. Der Nazismus, so seine Meinung, könne jedoch nicht einfach als "rechtsradikal" abgetan werden; ebenso wenig sei er nur "irrational"; zudem sei der "Irrationalismus" ein Grundprinzip der deutschen Kultur, das nicht einfach wegen seines Missbrauchs im "Dritten Reich" beiseitegeschoben werden dürfe. Diese Haltung brachte ihm viel Kritik ein, seinem Film "Hitler, ein Film aus Deutschland" wurde Verharmlosung der NS-Zeit vorgeworfen.
Erst viele Jahre später mehrten sich Stimmen, die Syberbergs Ansatz verteidigten. So schrieb der Filmhistoriker Dietrich Kuhlbrodt in seinem Buch "Deutsches Filmwunder – Nazis immer besser" (2006) über "Hitler, ein Film aus Deutschland": "Er kitzelt den Nazi heraus, der in dir steckt. Schon bald gab es ein Schlagwort dafür: Der-Hitler-in-mir. Das stieß in der binnendeutschen Rezeption auf wütende Ablehnung. Ich, Deutscher, bin kein Nazi. Ein Unisono der Söhnegeneration, der 68er, die sich ja gerade als Anklagebehörde gegen die Väter-Nazis verstand."
Aber auch jenseits des Films war Syberberg umtriebig. So war er 1980 mit der Kolumne "Syberbergs Notizen" der erste Kolumnist der neu gegründeten Zeitung taz. 1982 realisierter er mit "Parsifal" eine vollständig im Studio inszenierte Verfilmung von Wagners letzter Oper, produziert zum hundertsten Jubiläum der ersten Aufführung der Oper. Während Syberberg inhaltlich streng bei der Vorlage blieb, erweiterte er die Oper durch Überblendungen, Marionetten und eingeblendete Bilder von geschichtlichen Ereignissen, um der Adaption eine surreale, filmische Tiefenebene zu verleihen. Im gleichen Jahr wurde er mit dem Deutscher Kritikerpreis ausgezeichnet.
Syberbergs "Die Nacht" (DE/AT 1985), eine "Abgesang auf eine abendländische Epoche", bestand aus einem sechsstündigen Monolog der Schauspielerin Edith Clever, vor einem schwarzen Vorhang in einem abstrakten Studiobau; sie rezitiert dabei aus Dichtung und Philosophie (u.a. Aischylos, Shakespeare, Hölderlin, Heidegger), unterlegt mit Musikzitaten von Bach und Wagner.
Er drehte einen TV-Dokumentarfilm über André Heller ("André Heller sieht sein Feuerwerk", 1985) und die Videofassung einer Theaterinszenierung von Kleists "Penthesilea" (DE/AT/FR 1988). Kleists "Die Marquise von O." (1989) adaptierte er als vierstündiges Eine-Person-Stück, in einer Mischform aus Theater und Film; ähnlich verfuhr er bei "Ein Traum, was sonst?" (1994), über die letzten Stunden von Bismarcks Schwiegertochter auf ihrem Gut in Pommern, kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee am Ende des Zweiten Weltkriegs.
Syberbergs 1990 erschienenes Buch "Vom Unglück und Glück der Kunst in Deutschland nach dem letzten Kriege" brachte ihm (wie schon sein Film "Hitler, ein Film aus Deutschland") den Vorwurf einer Verharmlosung des Nationalsozialismus ein, dem er entgegenhielt, dass man sich der Faszinationskraft des Dritten Reiches stellen und den "Hitler in uns" erkunden müsse.
1997 zeigte er auf der "documenta X" in Kassel "Höhle der Erinnerungen - Von den letzten Dingen", eine Video-Installation aus 31 Videos, die unter anderem Szenen aus Theateraufführungen wiedergeben. Daneben publizierte Syberberg weitere Bücher, unter anderem "Film nach dem Film" (2008) und "Romy in Kitzbühel 1966." (2018).
Im Jahr 2000 kaufte Syberberg in seinem Geburtsort Nossendorf bei Demmin das heruntergekommene Anwesen seiner Familie zurück, um es vor dem Abriss zu retten. Für die akribische und eigenhändige Sanierung seines Elternhauses erhielt er im Jahr 2010 den Friedrich-Lisch-Denkmalpreis des Landes Mecklenburg-Vorpommern. 2011 wurde er vom französischen Kulturministerium zum "Commandeur" des Ordens Ordre des Arts et des Lettres ernannt, verliehen an "Personen, die sich durch ihr Schaffen im künstlerischen oder literarischen Bereich oder durch ihren Beitrag zur Ausstrahlung der Künste und der Literatur in Frankreich und in der Welt ausgezeichnet haben"; der "Commandeur" ist dabei die höchste Auszeichnung.
In seinen Heimatorten Nossendorf und Demmin arbeitete Hans-Jürgen Syberberg über Jahrzehnte hinweg an verschiedenen Projekten. So ließ er 2017 das in den letzten Kriegstagen 1945 ausgebrannte Gebäude des Café Zilms am Marktplatz in Demmin für zwei Wochen in Originalgröße als auf Stoff bedruckte Fassade wieder aufleben. Aus seinen diversen Bemühungen um das Demminer Stadtbild und die Ortsgemeinschaft entstand schließlich auch ein Film: "Demminer Gesänge". Eine vorläufige, dreieinhalbstündige Fassung wurde 2023 vom Forum der Berlinale abgelehnt, was unter anderem die FAZ mit Unverständnis kommentierte, scheinbar sei der Film "zu eigensinnig für die Berlinale". Stattdessen fand die Uraufführung im Juni 2023 auf dem Demminer Marktplatz start. Im Dezember 2023 startete eine kürzere Version in ausgewählten Kinos.