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Edgar Reitz verfilmte die Geschichte des deutschen Flugpioniers Albrecht Ludwig Berblinger (1770 – 1829): Der schwäbische Tüftler Berblinger träumt als Schneidergeselle in Ulm vom Fliegen. Gegen alle Widerstände beginnt er, seinen Traum zu verwirklichen und in den Jahren 1810/1811 einen für seine Zeitgenossen höchst obskuren Apparat mit Flügeln zu entwickeln, den er nach Zeichnungen des Wiener Uhrmachers Jakob Degen konstruiert. Dabei gerät Berblinger auch in politische Schwierigkeiten – eine besondere Rolle spielt dabei der Jakobiner Kaspar Fesslen. Am 31. Mai 1811 schließlich ist Berblinger große Stunde gekommen: In Anwesenheit des Königs versucht er, die Donau zu überfliegen.
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Der vielfach handwerklich versierte Berblinger hat Kinderwagen und Pferdeschlitten gebaut. Sowie eine Prothese konstruiert, für die er das mechanische Streckgelenk erfand und es sich patentieren ließ. Die Nutzung des Patents ist ihm als Schneider aber behördlich untersagt worden. Einhundert Jahre bevor Otto Lilienthal seine ersten Gleitflüge von den Rhinower Bergen bei Stölln im Brandenburgischen unternimmt, versucht Berblinger unter dem Einsatz sämtlicher materieller und individueller Kräfte die Utopie des Menschenflugs zu verwirklichen. Womit er zwangsläufig zum Außenseiter wird und damit seine Gattin Anna zur Verzweiflung bringt: nachdem sein Traum die materielle Grundlage seines Berufes vernichtet hat, ist auch die Ehe gescheitert.
Aber Berblinger gibt auch nach seinem spektakulären Sturz 1811 über der Donau vor den Augen des württembergischen Herzogs, dem Bruder von König Friedrich, und weiterer potentieller Unterstützer wie der Bankier Pointet nicht auf. Die Abwinde seien schuld gewesen, nicht sein Versagen. Er muss vor der Obrigkeit und der aufgebrachten Volksmenge, damals schier unvorstellbare 15.000 Schaulustige sollen Zeugen des Flugversuchs von der Ulmer Stadtmauer über die Donau gewesen sein, flüchten.
Die Geschichte seines Traums vom freien Fliegen beginnt während Berblingers Wanderschaft als Schneidergeselle in Wien beim Gasballonbauer Jakob Degen (Harald Kuhlmann), der nach anfänglichen Erfolgen und Unterstützung durch das österreichische Kriegsministerium sowie der neuen Machthaber in Paris Schiffbruch erlitten und entnervt aufgegeben hat. Dessen Lebensgefährtin, die Ballonfahrerin und Seiltänzerin Irma, aber glaubt weiterhin an diesen Traum – und wendet sich Berblinger zu…
Mit „Der Schneider von Ulm“ ist Edgar Reitz eine bis in kleinste Nebenrollen bemerkenswert besetzte einheitliche Kompilation der drei thematischen Hauptstränge Liebesgeschichte, historischer Traum vom Menschenflug und politische Restauration im Gefolge der Napoleonischen Kriege gelungen. Gedreht wurde in der Tschechoslowakei: Prag, Krumau (Cesky Krumlov) und Eger (Cheb), die phantastischen Gleitflugaufnahmen in Sokolov nahe der bayerischen Grenze sowie in der Schwäbischen Alb, wofür extra eine Seilbahn errichtet werden musste.
Das Autorenteam Petra Kiener/Edgar Reitz hat in zweijähriger Recherchearbeit neben dem historischen Berblinger-Roman des dichtenden Ingenieurs Max Eyth auch die Untersuchungen des Ulmer Brecht-Forschers K. W. Obermeier ausgewertet, der sein Material in die Form eines Bühnenstücks goss, das im November 1974 im Ulmer Theater uraufgeführt wurde. Entstanden ist – mit dem für damalige Verhältnisse bedeutenden Etat von 3,4 Millionen Mark - ein filmisches Historienbild, dass die politischen, wirtschaftlichen und geistigen Zeitdokumente unmittelbar in Spielhandlung umsetzt und nicht nur als Hintergrund-Staffage nutzt. Die Koproduktion mit Československý Filmexport Praha ist am15. Februar 1981 im ZDF erstausgestrahlt worden.
Erzählt wird, so Reitz, die „Geschichte eines kauzigen deutschen Individualisten, der in geradezu romantischer Selbstvergessenheit seiner Idee vom Fliegen lebt.“ Berlingers Flugapparat mit einer Spannweite von acht Metern wurde nach einem Kupferstich von Johannes Hans aus dem Jahr 1811 unter Verwendung seinerzeit üblicher Materialien von der Augsburger Firma Bitz nachgebaut – und erwies sich als flugfähig: Der Schneider von Ulm hatte die Aerodynamik des gewölbten Flügels herausgefunden!
Pitt Herrmann