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Verfilmung des Romans von Ferdinand von Schirach. Als der 85 Jahre alte Industrielle Hans Meyer im Berliner Hotel Adlon ermordet wird, tappen die Ermittler zunächst im Dunkeln. Umso größer ist das Erstaunen, als sich der 70-jährige Italiener Fabrizio Collini als Mörder der Polizei stellt. Er führte seit 30 Jahren ein vollkommen unauffälliges Leben in Deutschland und hatte scheinbar keinerlei Grund, die Tat zu begehen. Trotzdem beharrt Collini auf seiner Schuld. Es kommt zum Prozess, und der junge, unerfahrene Anwalt Caspar Leinen wird als Pflichtverteidiger berufen. Zunächst will er das Mandat ablehnen, da Meyers Enkelin Johanna eine Kindheits- und Jugendfreundin von ihm war. Dann aber übernimmt er den Fall doch noch, auf Anraten seines Mentors, des berühmten Anwalts Mattinger. Zunächst läuft alles auf ein kurzes Verfahren hinaus, da Collini geständig ist. Für das Rätsel des Motivs scheint sich niemand zu interessieren. Doch dann kommt Leinen allmählich den wahren Hintergründen der Tat auf die Spur.
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„Kein Fall ist aussichtslos“ ist Caspars Devise, der sich im wahren Leben hat durchboxen müssen – und diesen Sport heute immer noch als Freizeitausgleich betreibt. Im Berlin des Jahres 2001 sind Rechtsanwälte mit Migrationshintergrund, der beim vielleicht populärsten deutschen Schauspieler übrigens kein türkischer, sondern ein tunesisch-österreichischer ist, noch die große Ausnahme. Weshalb Caspar Leinen nicht nur den leisen Spott seines offiziösen Widersachers, des Oberstaatsanwaltes Reimers, und später auch der Vorsitzenden Richterin ertragen muss, sondern auch das offenkundige Erstaunen der als Pizzabotin arbeitenden Italienisch-Studentin Nina: „Ein Türke, der Anwalt ist“ will seiner späteren Mitarbeiterin nicht in den Sinn kommen.
Als Caspar erfährt, wer das Opfer seines verschlossenen, nach wie vor zu keiner Aussage bereiten Klienten ist, will er das vielversprechende Mandat seines ersten und sicherlich Aufsehen erregenden Schwurgerichtsverfahrens sofort wieder zurückgeben: Hans Meyer, Eigentümer der Meyerschen Maschinenfabrik, war nicht nur sein Ziehvater, der ihn in Schule und Studium gefördert und zur Belohnung für die Abinote Eins seinen Mercedes-Oldtimer geschenkt hatte, sondern auch der Großvater seiner Jugendliebe Johanna, die bei einem Autounfall ihren Bruder Philipp, Caspars besten Schulfreund, und ihre Eltern verloren hatte. Und die nun die Geschäftsführung der Fabrik übernimmt.
Aber ein Pflichtmandat kann man ebenso wenig ablegen wie sich einer Berufung ins Schöffenamt entziehen: Caspars ehemaliger Strafrechtsprofessor Richard Mattinger, der die Familie Meyer als Nebenkläger vertritt, macht ihm klar, dass persönliche Befindlichkeiten im Gerichtssaal nichts zu suchen haben: „Diesmal kennen Sie das Opfer, das nächste Mal erinnert Sie die Straftat an ein persönliches Ereignis, dann gefällt Ihnen die Nase Ihres Mandanten nicht. Glauben Sie, dass Ihr Privatleben etwas im Gerichtssaal verloren hat? Sie wollen Verteidiger sein – also verhalten Sie sich wie einer!“ Als Caspar zum ihm sehr vertrauten Landsitz der Familie Meyer fährt, gedreht wurde im Schloss Arendsee in der Uckermark, zeigt sich Johanna entsetzt darüber, dass er den Mörder ihres Großvaters verteidigen will – und allen Ernstes nach Verbindungen zwischen der Firma und der organisierten Kriminalität fragt. Dennoch kommen sich beide nach ihrer berührenden Ansprache auf der Totenmesse wieder näher. Dort taucht überraschend auch der Buchhändler Bernhard Leinen auf, Caspars leiblicher Vater, der einst seine türkische Ehefrau und seinen Sohn verlassen hatte, als dieser gerade 'mal zwei Jahre alt war.
„Ich möchte Ihnen keine Probleme machen, Herr Anwalt“: Collini weigert sich standhaft über die Motive seiner vollumfänglich eingestandenen Tat zu sprechen. Auf einem Segeltörn schlägt Professor Mattinger seinem früheren Schüler einen Deal vor: Wenn er Collini zu einem Geständnis überredet, ist die Staatsanwaltschaft dazu bereit, ihn nur wegen Totschlags anzuklagen und den Mordvorwurf fallenzulassen. Damit drohe seinem Mandanten statt lebenslanger Haft nur wenige Jahre Gefängnis, gute Führung vorausgesetzt.
Caspar ist trotz erdrückender Beweislast nicht interessiert. Und wird hellhörig, als die Polizistin Jennifer Raskob die Tatwaffe als eine seltene Pistole beschreibt, nach der man gezielt suchen müsse, weil sie auf dem Schwarzmarkt so gut wie nie angeboten werde. Caspar erinnert sich daran, dass er als elfjähriger Junge schon einmal eine solche Pistole gesehen hat: im Arbeitszimmer seines Ziehvaters Hans Meyer. Auf Caspars Antrag wird der Prozess für vier Tage unterbrochen: Sein in Frankfurt/Main lebender Vater ist bereit, fünf Aktenordner mit jeweils dreihundert Seiten fotokopierter Dokumente in der zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg durchzugehen, während er sich mit Nina als Dolmetscherin in die Toscana aufmacht. In Montecatini, dem Geburtsort Collinis unweit von Pisa, treffen sie auf den hochbetagten Übersetzer Claudio Lucchesi, der sowohl Fabrizio Collini kennt – als neunjähriges Kind (Leonardo Orsolini) – als auch Hans Meyer – als jungen Offizier der Waffen-SS (Jannis Niewöhner) 1944 im Einsatz gegen italienische Partisanen. Caspar ist nun für kein (Bestechungs-) Geld der Welt bereit zu einem weiteren Deal mit Mattinger – und lädt Claudio Lucchesi als Zeugen vor Gericht. Erst als dieser im Verhandlungssaal erscheint, bricht Fabrizio Collini sein Schweigen...
Ferdinand von Schirach in seinem nach den Erzählungen „Verbrechen“ und „Schuld“ ersten Roman „Der Fall Collini“, der es seit seinem Erscheinen 2011 auf mehr als eine halbe Million verkaufter Exemplare allein in Deutschland bringt, hat einen in Vergessenheit geratenen Skandal der westdeutschen Nachkriegs-Justiz in eine spannende Krimihandlung gegossen, die geradezu nach einer Verfilmung schrie. Und zwar nicht nach einem Courtroom-Kammerspiel für den Bildschirm, sondern nach der großen, der ganz großen Lösung des Regisseurs Marco Kreuzpaintner und des „Parfum“-Bildgestalters Jakub Bejnarowicz, der die 2001 im Gerichtssaal und 1944 in der Toscana spielenden Szenen mit einer Digitalkamera mit anamorphotischer Linse im Super-Breitformat (1:2,35) in brillanter Cinemascope-Auflösung drehte – und die 1980er Jahre der Jugendzeit Caspars auf klassischem 35mm-Material. Kongenial verbunden hat die drei Zeitebenen der Ausnahme-Cutter Johannes Hubrich.
„Ist das der Rechtsstaat, an den wir glauben?“: Kreuzpaintner ist mit seinen Drehbuch-Autoren ein Coup gelungen: Indem Elyas M'Barek entgegen der Romanvorlage einen jungen Rechtsanwalt mit Migrationshintergrund spielt, gewinnt die Geschichte eines der größten westdeutschen Justizskandale aus dem Jahr 1968 eine neue Dimension. Es sind der Halbtürke Caspar und der italienische Gastarbeiter Collini, die der von flugs reingewaschenen Nazis durchsetzten deutschen Justiz den Spiegel vorhalten. „Dreher-Gesetz“ ist das „Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten“ vom 24. Mai 1968, benannt nach Eduard Dreher. Als Staatsanwalt am Sondergericht Innsbruck hat er während des Zweiten Weltkriegs sogar bei Bagatelldelikten wie Lebensmitteldiebstahl die Todesstrafe gefordert. Nach dem Krieg machte er ungebrochen Karriere als Beamter, wurde Autor des meistverbreiteten Kommentars zum Strafgesetzbuch und 1968 Leiter der Strafrechtsabteilung im Bundesjustizministerium. Durch das von ihm wesentlich auf den Weg gebrachte Gesetz kamen Tausende von Verbrechern aus dem Dritten Reich ungestraft davon.
„Solider deutscher Thrillerkitsch“ ätzte Juliane Liebert in der „Süddeutschen Zeitung“. Da bin ich Hanns-Georg Rodek näher, der in der „Welt“ lobte: „'Der Fall Collini' ist der Glücksfall eines Films, der mit den Mitteln eines Thrillers Geschichtserklärung betreibt und sich nicht scheut, in einer atemberaubenden Parallelmontage der Jahrzehnte und Ereignisse ganz cineastisch seinen Höhepunkt zu konstruieren. Chapeau!“ Free-TV-Premiere ist am 2. August 2021 in der ARD.
Pitt Herrmann