GESICHTER DER DEFA / FACES OF DEFA

 

Reinhild Steingröver (Filmwissenschaftlerin, Rochester, USA), 2008

Knapp zwanzig Jahre nach dem Ende der DDR und der Abwicklung des ostdeutschen Filmstudios erscheint der Bildband "Gesichter der DEFA". Wer kennt die alten Filme noch, wer entsinnt sich der Namen der Schauspieler*innen, die ihnen ihr Gesicht liehen? Warum sollte man sich heute daran erinnern?

Für Betrachter*innen aus der ehemaligen DDR werden diese Portraits sicherlich manche persönliche Erinnerung an eine Jugendliebe, an einen Streit mit dem Staatsbürgerkundelehrer, an Musik, an das Lebensgefühl, schlicht den Alltag in Ostdeutschland, wie er in den DEFA-Filmen reflektiert wurde, wecken. DEFA-kundige Kinoliebhaber denken vielleicht an die sogenannten Trümmerfilme des Anfangs, die frechen Aufbau- und Beziehungsfilme der 1960er Jahre (oft erst viel später freigegeben), die Gegenwartsfilme der 1970er und 1980er Jahre, aber auch Musicals, Indianer- und Science-Fiction-Filme.

Die hier porträtierten Künstler und Künstlerinnen sind aber nicht nur "Gesichter der DEFA", denn dann hätte Sandra Bergemann es bei einer Auswahl von DEFA-Filmfotos belassen können. Stattdessen zeigen die Portraits Gesichter, die auch Betrachter aus der ehemaligen Bundesrepublik aus Filmen vor und nach dem Mauerfall, aus Fernsehserien und dem Theater kennen. Es sind also Schauspieler*innen des gesamtdeutschen und internationalen Films: Armin Mueller-Stahl beispielsweise arbeitete sowohl mit Jim Jarmusch und Egon Günther als auch mit Rainer Werner Fassbinder; Corinna Harfouch spielte u.a. in einem der letzten DEFA-Filme, "Die Spur des Bernsteinzimmers" (1992) von Roland Gräf und in dem "Wendefilm" "Das Versprechen" (1995) der westdeutschen Regisseurin Margarethe von Trotta, während Michael Gwisdek, der mit allen namhaften DEFA-Regisseuren seiner Generation gearbeitet hatte, ebenfalls unvergessliche Rollen im Film und Fernsehen der letzten zwanzig Jahre spielte – man denke nur an seinen Direktor Klapprath in "Good Bye, Lenin!" (2003).

Dieser Band ist also eine Aufforderung, die noch immer bestehende Mauer im Kopf auch in Bezug auf deutsche Filmgeschichte endlich abzutragen.

Dazu gehört allerdings zunächst für viele Betrachter*innen die (Neu-)Entdeckung des DEFA-Films. Noch vor fünfzehn Jahren, als das Potsdamer Filmmuseum den Fotoband "Vor der Kamera – Fünfzig Schauspieler in Babelsberg" (1995) mit Szenenfotos veröffentlichte, fiel auf, dass viele der begleitenden Würdigungstexte von namhaften Regisseuren die Größe der DEFA-Stars durch Vergleiche in der internationalen Arena zu fassen suchten: Eva-Maria Hagen wurde die "Marilyn des Ostens", Jutta Hoffmann "die junge Frau Fellinis - Giulietta Masina" während Manfred Krug die Ausstrahlung eines Robert Redford attestiert wurde.

Tatsächlich hat der DEFA-Film im Laufe der letzten zwanzig Jahre begonnen, sein verdientes internationales Publikum zu finden, welches die anhaltende Wirkung der künstlerischen Errungenschaften der in diesem Fotoband versammelten Künstler*innen würdigt. Dies bestätigten ausverkaufte Vorstellungen in der DEFA-Retrospektive im Museum of Modern Art, New York 2005, geplante Filmserien in Los Angeles 2009 und engagierte Diskussionen mit Student*innen in DEFA-Seminaren an vielen amerikanischen Hochschulen. Ein internationales Publikum, bestehend aus verschiedensten Altersgruppen, findet heute Zugang zu den großen Filmen des ostdeutschen Studios.

Auch wenn eine 20-jährige Amerikanerin kaum etwas über die historischen Umstände der DDR in den 1970er Jahren weiß, versteht sie doch Angelica Domröses "Paula" in ihrer zeitlosen Sehnsucht nach Liebe und Abenteuer. Gleiches gilt für die Filme früherer und späterer Jahrzehnte, seien sie Komödien, Künstlerbiographien, Problem- oder Abenteuerfilme. Natürlich erhält beispielsweise die Begegnung mit Uwe Kockisch und Michael Gwisdek in Ulrich Weiß' "Dein Unbekannter Bruder" (1982) eine mehrschichtigere Bedeutung, wenn man sich der Tradition der antifaschistischen Widerstandsfilme der früheren DEFA-Jahre oder auch der überaus schwierigen Rezeption und Zensur dieses Films in der DDR bewusst ist. Doch auch vollkommen "unbelastet" von jeglicher Kenntnis der DEFA und DDR-(Film-)Geschichte verstehen zeitgenössische Zuschauer*innen die paranoide Angst, Schuld und Verzweiflung der Filmheld*innen und setzen diese Art des Sehens in Beziehung mit ihrer jeweiligen Lebensrealität.

Der DEFA-Filmgeschichte anhand der hier versammelten Portraits auf die Spur zu kommen bedeutet auch, einem Kapitel engagierter Kunst zu begegnen, in dem Film zumindest dem ursprünglichen Anspruch zufolge als gesellschaftlich relevantes Medium verstanden wird. Dem Gründungsgedanken "Der Film muss heute Antwort geben auf alle Lebensfragen unseres Volkes" von 1946 steht die Übersetzung des DEFA-Namens "Diene Ehrlich Friedlichem Aufbau" von 1947 gegenüber. Dass das Studio diesem Motto längst nicht immer gerecht wurde, wird heute nicht mehr verschwiegen. Aber gerade in der Auseinandersetzung mit dem utopischen Anliegen, dass Filme eine positive gesellschaftliche Funktion wahrnehmen können, entstanden in 46 Jahren über 700 Kinofilme, von denen die besten das obige Motto beherzigten – und deshalb oft prompt auf Eis gelegt wurden, statt in die Kinos zu kommen.

Dies geschah 1965, nach dem 11.Plenum des Zentralkomitees der SED, in dessen Folge die "Kaninchenfilme", so benannt nach Kurt Maetzigs Film "Das Kaninchen bin ich", also die gesamte Jahresproduktion an Spielfilmen, für die nächsten zwei Jahrzehnte im Archiv lagerten. Alfred Müller und Angelika Waller, deren Portraits in diesem Band enthalten sind, spielte in diesem entscheidenden Film die Hauptrollen. Erst nach dem Fall der Mauer wurden die Verbotsfilme 1989/90 öffentlich vorgeführt. Kurt Maetzig erinnerte sich später an den Zusammenstoß von persönlichem Idealismus und bürokratischem Dogmatismus im Studio: "Der Film 'Das Kaninchen bin ich' verkörperte in klarer Weise die Ideale, mit denen ich beim 'Augenzeugen' [der DEFA Wochenschau] angefangen hatte: 'Urteilen Sie selbst!' Es war ein Film für einen demokratischen Sozialismus, und ich bin damals damit gescheitert, bin schrecklich damit gescheitert."

Ähnliches galt für Frank Vogels im gleichen Zug verbotenen "Denk bloß nicht ich heule", mit den ebenfalls hier abgebildeten Peter Reusse, Helga Göring und Jutta Hoffmann, der sich des tabuisierten Generationskonflikts in der DDR annahm.

Wenn also die Partei und Studioleitung selbst regelmäßig aus Ängstlichkeit und Unverständnis die Gründungsutopie der DEFA ignorierte, so gab es doch in jeder Regie- und Schauspielgeneration einige mutige Künstler*innen, die sich deren entsannen und sie ernstnahmen. Für sie bedeutete dies, tragische persönliche und berufliche Konsequenzen zu erdulden, die teils irreparabel schädigend blieben: Entlassungen, erzwungene Untätigkeit, Übersiedlung in den Westen, gesundheitliche Überlastungen, selbst Haft. Solche Schicksale lassen sich nicht wieder gutmachen – aber sie schufen Filme, die bleiben.

Filme, die sich vom ersten - "Die Mörder sind unter uns" (1946) - bis zu den letzten - u.a. "Stein" (1990) und "Land hinter dem Regenbogen" (1991) - immer wieder mit Fragen der Verantwortlichkeit gegenüber der deutschen Geschichte und des Individuums in der Gesellschaft auseinandersetzen. Auch hier gilt, dass diese Filme einerseits historisch Spezifisches angehen, andererseits aber einem breiten Publikum zu elementaren Grundproblemen des Lebens Zugang verschaffen, bzw. es schlichtweg unterhalten. Wer behauptet, dass die just genannten Titel nur von einem DDR-kundigen Publikum rezipiert werden können, der wird auch meinen, Thomas Bernhard könne nur in Wien und Woody Allen nur in New York verstanden werden.

Wenn die Augen, einem altbekannten geflügelten Wort gemäß, das Fenster zur Seele sind, dann lädt dieser Fotoband dazu ein, als Portal zu einem für viele noch unentdeckten aber sehr lebendigen Kapitel Filmgeschichte zu fungieren. Es gibt viel Gehaltvolles, Spannendes und Witziges zu entdecken: Winnetou-Fans, seien beispielsweise die Indianerfilme mit Gojko Mitic, Travolta-Begeisterten hingegen der Kulthit "Heißer Sommer" (1968) empfohlen. Fassbinder Verehrer sollten sich für Michael Gwisdeks Darstellung des kriegsgeschädigten Boxers um 1945 in Ulrich Weiss' "Olle Henry" (1983) interessieren, während Anhänger des italienischen Neorealismus ästhetische Anklänge in Gerhard Kleins "Berlin - Ecke Schönhauser" (1957) finden werden.

Sandra Bergemanns Portraits sind ein höchst willkommener und zeitgemäßer Anlass, diesen und vielen anderen Filmschätzen auf die Spur zu kommen.

 

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