Olle Henry

DDR 1982/1983 Spielfilm

Inhalt

Nachkriegszeit. Henry Wolters, vor dem Krieg Berufsboxer, sucht im zerstörten Berlin nach einem Anfang. Als er sich auf einer Hamsterfahrt verletzt, wird er von Xenia, einer Barfrau, die sich für ein paar Lebensmittel prostituiert, aufgenommen. Xenia verliebt sich in den hoffnungslos gewordenen, heruntergekommenen Henry und sorgt mütterlich für ihn. Es gelingt ihr, ihn zu einem Comeback im Boxring zu motivieren; sie lässt auch ihre Beziehungen u.a. zu Bruno spielen, um die Idee in die Tat umzusetzen. Der erste Boxkampf endet für Henry mit einer Niederlage, doch Xenia lässt ihn nicht fallen.

 

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Heinz17herne
Heinz17herne
1945. Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Der Wartesaal eines Berliner Bahnhofs ist überfüllt, alle warten darauf, dass endlich der Zug eintrifft, der sie aus der zerbombten Stadt hinaus aufs Land führt. Sie haben kleinere und, bis hin zur Standuhr, größere Preziosen dabei in der Hoffnung, diese bei Bauern gegen Lebensmittel eintauschen zu können. Ansonsten gilt die Zigarettenwährung: Für eine Lucky Strike ist ein Mädchen (Katrin Knappe) schon 'mal bereit, für einen liebeshungrigen jungen Mann (Ulrich Mühe) den Pullover zu lupfen.

Henry Wolters fällt unter den abgehärmten Gestalten, die nicht an ein Morgen denken, weil sie heute ums nackte Überleben kämpfen, nicht auf. Nur einige wenige erkennen ihn als einen vor dem Krieg erfolgreichen Profiboxer. Der offenbar auch psychisch verwundete Kriegsheimkehrer hat noch nicht einmal mehr die Kraft, um sich auf dem Podest zwischen zwei Waggons des hoffnungslos überbelegten Hamsterzuges gegen andere durchzusetzen – und wird bereits unweit des Bahnhofs vom Zug gestoßen.

Als er wieder zu sich kommt, findet er sich auf einem Sofa wieder, das in einem ausrangierten Eisenbahnwaggon auf einem Abstellgleis steht – umsorgt von einer offenherzigen jungen blonden Frau. Die dem verwundert Dreinblickenden ein herzhaftes Frühstück mit heiß begehrter Importware, Corned Beef aus der Dose, zubereitet und ihm auch für die kommende Nacht Unterschlupf anbietet. Xenia, die sich in der halbwegs noblen Nachtbar „Finca“ im Keller eines Trümmerhauses als Animiermädchen verdingt, ist froh, einen Kerl an ihrer Seite zu wissen, auch wenn sie ihn noch etwas aufpäppeln muss.

Als zweiter Schritt könnte dann sein Versuch eines Comebacks im Boxring folgen. Denn wenn dieser Erfolg hat, könnte sie sich aus dem Halbweltmilieu lösen, müsste nicht ständig bereit stehen für notgeile Spießer (Horst Krause) oder gönnerhafte neureiche Kriegsgewinnler wie den einflussreichen Rechtsanwalt Bruno, der ständiger Gast in der „Finca“ ist und sich ernsthafte Chancen bei Xenia ausrechnet.

Auch wenn Henry es niemals offen zugeben würde, sondern so tut, als lasse er alles willenlos mit sich geschehen, ist der durch den Krieg Entwurzelte heilfroh, wieder ein kleines Plätzchen im Leben gefunden zu haben. Wie gefährdet dieses Leben gewesen ist, weiß Hannes, der livrierte „Finca“-Türsteher, vom Hörensagen: Henry soll als Wehrmachtssoldat den Versuch unternommen haben, zu desertieren und von seinen Kameraden durch einen Schuss in den Hintern daran gehindert worden sein.

Ein eisiger Wind weht über der Trümmerlandschaft, in der nur wenige holzbetriebene Autos unterwegs sind. Henry will sich nicht von einer Frau aushalten lassen und sucht sich einen Job in seinem früheren „Stall“, der in den Kellerräumen unter einer Berliner Eckkneipe die Bombardierung der einstigen Reichshauptstadt überlebt hat. Doch für echte Kämpfe im Ring scheint er wenig geeignet – zu mager, zu abgehärmt, aber auch psychisch nicht fit genug.

So nimmt Henry einen Job als Pseudokämpfer in der Jahrmarkts-Boxbude von Karl Heinz und seiner „Kassiererin“ Lola an. Eines Abends sitzt Xenia mit „ihrem“ promovierten Juristen im Publikum – und wendet sich angewidert von dieser albernen Shownummer ab. Xenia bringt den sie verehrenden Boxpromotor Schramm dazu, Henry einen erneuten Einstieg ins Profigeschäft zu ermöglichen. In vier Wochen ist sein erster Kampf – und immerhin tausend Mark seine garantierte Börse. Mit Xenias Hilfe frisst sich Henry im wahren Wortsinn Speck an, um auf sein Kampfgewicht zu kommen und trainiert fleißig am selbstgebauten, mit einem Wehrmachtsmantel ausgestopften Sandsack.

„Töchterchen, Sie sind ein schönes Mädchen. Tatsächlich“: Mehr an Zuwendung ist beim ollen Henry nicht drin, da kann sich die schöne Xenia noch so anstrengen – vom festlich gedeckten Tisch bei Kerzenschein bis hin zum aufreizenden Striptease. Er greift lieber nach der Speckseite auf dem Tisch statt nach ihrer nackten Haut. Endlich wieder im richtigen Ring, entpuppt sich der als ungefährlicher Anfänger angekündigte Gegner als bärenstarker Hamburger Profi, der Henry dermaßen verprügelt, dass er in der Klinik ins Koma fällt. Doch Xenia hält weiter zu ihm – bis die beiden Unbehausten tatsächlich im Freien stehen: der Eisenbahnwaggon wird abtransportiert...

Im 1983 zusammen mit dem Prager Filmstudio Barrandov entstandenen Film „Olle Henry“ hat sich Ulrich Weiß einen Stoff aus der jüngeren Vergangenheit ausgewählt, dessen Geschichte bis in die realsozialistische Gegenwart ausstrahlt. Roland Dressels Kamera verweilt häufig auf Trümmergrundstücken und enorm dimensionierten Brachflächen, wie sie in der DDR noch Jahrzehnte nach Kriegsende zum Alltag gehörten. Besonders der deprimierende offene Schluss, die andauernde Unbehaustheit seiner Protagonisten, passte so gar nicht in das SED-Konzept, mit Zuversicht und unerschütterlichem Optimismus vorauszuschauen auf die neue Zeit des Sozialismus.

Ästhetisch aber war „Olle Henry“ ganz auf der Höhe seiner Zeit – gesamtdeutsch gesehen. Anikó Sáfárs unglaublich präsente, unmittelbare Darstellung der Xenia erinnert stark an zwei Arbeiten Hanna Schygullas mit Rainer Werner Fassbinder wenige Jahre zuvor – 1978 in der Titelrolle von „Die Ehe der Maria Braun“ und 1980 als Sängerin Wilkie in der Lale-Andersen-Romanadaption „Lili Marleen“.

Nach „Olle Henry“ entschied die Defa-Generaldirektion, dass Ulrich Weiß mit keinem Gegenwartsstoff mehr betraut werden dürfe. Was den Regisseur nicht weiter verwunderte. 1992 sagte er im Gespräch mit Elke Schieber vom Archiv des Filmmuseums Potsdam: „Ich habe ihnen ihr Spielzeug kaputt gemacht – die Genres zerstört, die Traditionslinie der Defa im Kinderfilm gebrochen, den antifaschistischen und den Nachkriegsfilm entheiligt.“ Und: „Es war permanent eine Situation von Streicheln und Schlagen. (…) Das Schlimmste dabei war, dass die Leute sich ihrer Gefühle nicht sicher waren. (…) Sie haben die Schere zwischen moralischen, ideologischen Dingen, die sie meinten propagieren zu müssen, und ihren Emotionen nicht zusammengekriegt. So habe ich es empfunden.“

Pitt Herrmann

Credits

Alle Credits

Dreharbeiten

    • Berlin-Ost
Länge:
2741 m, 101 min
Format:
35mm
Bild/Ton:
Orwocolor, Ton
Aufführung:

Uraufführung (DD): 24.11.1983, Berlin, International

Titel

  • Originaltitel (DD) Olle Henry

Fassungen

Original

Länge:
2741 m, 101 min
Format:
35mm
Bild/Ton:
Orwocolor, Ton
Aufführung:

Uraufführung (DD): 24.11.1983, Berlin, International

Auszeichnungen

DDR Kritikerpreis 1983
  • DDR Kritikerpreis "Die große Klappe", Bester Darsteller