Inhalt
Als die leichtlebigen und unsteten Eltern der 14-jährigen Stevie beschließen, aufs Land zu ziehen, erhofft sich die Teenagerin davon einen Schritt in Richtung bürgerlicher "Normalität". Aber auch in der neuen Umgebung gelingt es den Eltern nicht, ihre hedonistische Späthippie-Attitüde und ihre verantwortungslose Einstellung zum Leben aufzugeben. Um bei den Menschen im Dorf einen guten Eindruck zu machen, erfindet Stevie sich ein neues, eindrucksvolles Leben und erzählt, dass sie eine Diplomatentochter sei. Als ihre Eltern jedoch beginnen, mit illegalen Geschäften die Haushaltskasse aufzubessern und Freunde von ihnen beginnen, Haus und Hof zu belagern, droht Stevies Lügengebäude in sich zusammen zu stürzen. Das Mädchen erkennt, dass sie sich in der absolut freien und doch beengenden Welt ihres Elternhauses behaupten muss, um endlich ihren eigenen Weg zu finden.
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Die Zigarette gehört zu Lily, die in der Tat die Mutter der 14-jährigen Stevie (unglaublich: die erst elfjährige Ceci Chuh) ist. Die beiden besuchen ein frisches Grab, auf dessen Holzkreuz der Name Wieland Oppladen steht. Sie haben das im Grünen gelegene Haus des Verstorbenen, Stevies Großvater, geerbt und richten sich nun häuslich ein. „Wir müssen uns jetzt gefühlsmäßig darauf vorbereiten, mit deinem Vater klar zu kommen“ sagt, etwas umständlich aber mit Nachdruck die Mutter, als sie zu Stevie in die Badewanne steigt.
Rückblick. Dreiköpfige Familie im klapprigen Ford mit portugiesischem Kennzeichen. Keine Idylle. Beim Tankstop an der Autobahn wird das Fahrzeug von der Polizei durchsucht. Axel, Stevies Vater, hat im Gefängnis gesessen, ist den Zivilbeamten einschlägig bekannt. Aber die drei dürfen weiterfahren in den nichtssagenden, von einer lauten Straße durchzogenen Ort irgendwo zwischen Köln und Hürth.
Plötzlich ist der Garten des Hauses belebt. Langhaarige, tätowierte, verwegene Gestalten machen sich breit: Sex, Drugs and Rock’n Roll lautet fortan die Devise der ständig besoffenen, bekifften und dazu noch laufend im Wachsen begriffenen Hippie-Kommune. Die Konversation ist im wesentlichen auf Four-Letter-Words beschränkt, dafür fallen auch ’mal ein paar Brocken Französisch oder Englisch.
Und Stevie mittenmang. Ihr ist das ganze kindlich-unreife Gehabe ihrer Eltern und deren Freunde nicht nur peinlich wie vielen Kindern in ihrem Alter, sondern geradezu zuwider. Sie rührt weder eine Zigarette noch eine Flasche Bier an, von härteren Drogen ganz zu schweigen. Sondern erträumt sich ein stinknormales Familienleben zu dritt: Stevie schneidet aus alten (Familien-) Alben die Porträtköpfe ihrer Eltern aus, um sie auf konventionelle, die Alt-68er, die hier fröhliche Urständ’ feiern, auch wenn sie längst aus der Zeit gefallen sind, würden sagen: auf spießige Familienszenen wie einer Kindstaufe zu kleben.
Ein Bild ihres verständnisvollen „Lieblinksonkels“ Ingmar trägt sie immer bei sich. Ihm wird sie sich später einmal mit tiefrot geschminkten Lippen in eindeutiger Weise nähern als verzweifelter Versuch, den Frust über ihre Abfuhr bei den Jugendlichen des Ortes zu kompensieren. „Du, ich häng hier einfach so ’rum“: Doch Ingmar ist Realist genug auf solche Avancen nicht einzugehen, sondern rät ihr augenzwinkernd: „Nimm ’ne Knarre und schieß’ alle übern Haufen.“
Die unverdrossene Kämpfernatur Stevie radelt einem in etwa gleichaltrigen Nachbarsjungen hinterher, schleicht sich sogar in dessen Schulklasse ein, aus der sie der Lehrer freilich flugs hinausbefördert. Also muss sie sich selbst um die Aufnahme in die Schule bemühen – will die darob sprachlose Direktorin Dr. Irm Branzger gar selbst bezahlen...
Auch sonst lernt sich die 14-Jährige zu behaupten. Sie bringt ihren neuen Freund dazu, das Chaos in Haus und Garten mit dem Fotoapparat festzuhalten. Und sie klaut aus der Bargeld-Reserve der (Drogendealer-) Kommune einige tausend Euro, sicher ist sicher.
Tatsächlich: Über Nacht ist der ganze Spuk vorbei. Allerdings sind auch ihre Eltern verschwunden. Mit dem Nachbarsjungen reist Stevie ihnen nach Belgien nach, kann sie auch ausfindig machen. Und lässt die Drogenkuriere allein weiter nach Italien fahren: Sie will weiter zur Schule gehen, ein bürgerliches Leben versuchen...
„Die Unerzogenen“, Pia Marais‘ erster Langfilm, ist autobiographisch grundiert: „Meine Eltern waren Hippies, und ihr chaotisches Leben hat mir immer als lebendige Inspirationsquelle gedient. (...) Fehlende Grenzen sind ein zentrales Thema der Geschichte. Dass die Erwachsenen zu sehr in sich selbst gefangen sind, um zu begreifen, wann der Spaß aufhört und der Ernst beginnt, hat zwar einen seltsam tragischen Unterton, zeigt aber auch die Unfähigkeit, die körperlichen und seelischen Grenzen der Anderen wahrzunehmen“, so die Regisseurin im Realfiction-Presseheft.
Ihre Geschichte eines Kindes, das seinen Weg zwischen richtig und falsch, gut und böse selbst suchen muss, ist so sicherlich auch ein Teil ihrer eigenen Geschichte. Konsequent nimmt der Film die Perspektive der 14-Jährigen ein, was natürlich eine Parteinahme ist, auch wenn die Regisseurin das abstreitet: „Es ging nicht darum, ein Urteil zu fällen, sondern die tief verankerte Verbindung zwischen Eltern und Kind zu begreifen.“
Bei der Berlin-Premiere im weiten Rund der so gut wie ausverkauften Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz konnte man jedenfalls eine Stecknadel fallen hören – sicherlich kein so oft wiederholbarer Vorgang beim Kummer gewöhnten Prenzlberger Szenepublikum, dem der Film ordentlich an die Nieren ging.
Pitt Herrmann