Das Ende der Wahrheit

„Vielleicht kann ich die Wahrheit finden, indem ich die Lügen vergleiche“: Das Zitat Leo Trotzkis ist einem über gut einhundert Minuten hochspannenden Verschwörungsthriller als Motto vorangestellt, der die ganze Ausweglosigkeit politischer Bemühungen um weltweite Terrorbekämpfung angesichts korrupter Machenschaften bis in höchste Agenten- und Regierungskreise zeigt. Er beginnt ganz unspektakulär an einem idyllischen See in Bayern: in der Hütte der Journalistin Aurice Köhler hat es sich ihr Freund Martin Behrens bequem gemacht, während sie im Neopren-Anzug im winterlich-eiskalten Wasser ihre Bahnen zieht.

Schnitt. Der afghanische Flüchtling Mansoud Behzad beantragt Asyl, Behrens ist offiziell als Urdu-Dolmetscher dabei. In Wirklichkeit ist er einer der wenigen Zentralasien-Experten des Bundesnachrichtendienstes und zwingt mit seinem Insiderwissen über dessen familiären Verhältnisse daheim den Asylsuchenden, ihm sein Handy auszuliefern. Schnitt. Am Abend, während Behrens seiner Tochter Antonia, die bei seiner „Ex“ Lucia Wendtland lebt, aus einem Buch vorliest, bis sie eingeschlafen ist, wird der gesuchte Terrorist Al Bahiri von einer amerikanischen Drohne getötet – und mit ihm gut ein Dutzend Zivilisten. Bahiris Fahrer konnte über Behzads Handy geortet werden.

Im Vorfeld der Münchner Sicherheitskonferenz erstattet Behrens dem neuen Sachgebietsleiter Patrick Lemke und seinem nur „Rottweiler“ genannten Abteilungsleiter Dr. Joachim Rauhweiler Bericht über die in Pullach übliche Datenübermittlung für den Dohneneinsatz der US Army. Auf einer Pressekonferenz im Bayerischen Hof sehen sich Staatssekretär Dr. Benjamin Vossmeier und BND-Präsident Dr. Stefan Grünhagen diesbezüglich kritischen Fragen Aurice Köhlers ausgesetzt. Woraufhin Dr. Aline Schilling, „Rottweilers“ rechte Hand und designierte Nachfolgerin, Behrens verdächtigt, Beruf und Privatleben nicht ausreichend getrennt zu haben: Würde die Liaison im Amt bekannt, verlöre er seinen Job. Und sie, weil sie das Verhältnis gedeckt habe, gleich mit.

Als sich die Journalistin in einem von Paschtunen und Kasachen frequentierten Münchner Lokal mit ihrem Informanten, einem Whistleblower des für die westliche Allianz weltweit tätigen „Dienstleisters“ Global Logistics, trifft, wird dieses von maskierten Terroristen zusammengeschossen. Dem Blutbad fällt auch Aurice Köhler zum Opfer – und ihr Gesprächspartner, der sich als Einziger schwer verletzt retten konnte, liegt wenig später tot auf dem Bett der Seehütte. Für Behrens ist die Sache klar: hier waren Geheimdienst-Spezialisten am Werk.

Als das Video von der Enthauptung des abgeschobenen Mansoud Behzad online gestellt wird und sich die mutmaßlichen Täter des Gaststätten-Anschlags ihrer Verhaftung durch kollektiven Selbstmord entziehen, wird Martin Behrens vom Fall abgezogen. Den nun der so ahnungslos erscheinende wie arrogant auftretende Patrick Lemke übernimmt. Dem immer mehr Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit seiner Behörde aufkommen, seitdem er mitbekommen hat, wie „Rottweiler“ von Michael Sachner und dessen Chef Dr. Markus Keller ein Vorstandsposten bei Global Logistics offeriert worden ist. Dafür soll der BND-Abteilungsleiter die Aufhebung des Waffenembargos für das (fiktive) Zahiristan ermöglichen - durch nachträgliche „Korrekturen“ an der Behrens-Stellungnahme zur gerade laufenden politischen Debatte.

Behrens hat mit Hilfe des begeisterten Flugzeug-Fans und Fotografen Hubert Ahlshorn und anderer BND-Kollegen herausgefunden, dass ein gewisser Jafar Al Bahadur hinter den Kulissen die Fäden zieht – als Waffenhändler und Terrorist. Als er mit Hilfe von Lemke den BND-Präsidenten Grünhagen mit seinen Erkenntnissen konfrontiert, lädt dieser seine beiden Spitzenleute ein, ihn auf einer Reise an die pakistanische Grenze zu begleiten. Wohl nicht zufällig wird der Konvoi überfallen und nur Martin Behrens überlebt. Werden nun in Deutschland Köpfe rollen? Während Dr. Aline Schilling zur BND-Präsidentin ernannt wird, wiegelt Staatssekretär Vossmeier ab: die von Aurice Köhler belegte Wahrheit würde ganz Zentralasien in Aufruhr versetzen. Antonia Behrens stellt ihrem Vater die einzig richtige Frage: „Warum tust du das?“

Nach einem desillusionierten SEK-Polizisten in Philipp Leinemanns „Wir waren Könige“ (2014) glänzt Ronald Zehrfeld nun als ein von Lobbyismus und Korruption im „Amt“ desillusionierter Agent in einem weiteren Genrestreifen. Dem man sein Low-Budget von weniger als zwei Millionen Euro nicht ansieht. Die Lorbeeren aber erntete ein cooler Alexander Fehling, der 2019 gleich doppelt ausgezeichnet wurde: mit dem Deutschen Filmpreis „Lola“ in der Kategorie „Beste männliche Nebenrolle“ und mit dem Preis der deutschen Filmkritik in der Kategorie „Bester Darsteller“. „Das Ende der Wahrheit“ eröffnete am 14. Januar 2019 in Saarbrücken den Max-Ophüls-Wettbewerb, kam am 9. Mai 2019 in die Kinos und wird am 3. Juni 2021 von Arte als Free-TV-Premiere ausgestrahlt.

Pitt Herrmann