Inhalt
1956. Die beiden Abiturienten Theo und Kurt, die in Stalinstadt leben, fahren für einen Kinobesuch in den Westteil von Berlin. Als sie in der Wochenschau einen Bericht über die blutige Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands sehen, sind sie so schockiert, dass sie mit ihren Mitschülern Lena, Paul und Erik während des Unterrichts eine solidarische Schweigeminute für die Opfer einlegen. Mit dieser Aktion geraten sie jedoch ins Visier der DDR-Behörden. Vergeblich versucht der Schuldirektor, die Sache als harmlose Flause abzutun. Doch damit gibt sich die Stasi nicht zufrieden. Die Schüler werden verhört, bedroht und unter Druck gesetzt. Man will die Namen der Rädelsführer, um an ihnen ein Exempel zu statuieren. Allerdings ist die Solidarität der Schüler wesentlich stärker, als erwartet.
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Dieter Garstka, Jahrgang 1939, der später Germanistik, Soziologie und Geographie in Köln und Bochum studierte, danach Gymnasiallehrer in Essen und Krefeld war und heute in Essen lebt, hat 2006 ein bei Ullstein erschienenes reich bebildertes „Klassenbuch“ vorgelegt, in dem er den so ungeheuerlichen wie authentischen Fall minutiös schildert – bis zum Happy End des gemeinsamen Abiturs im westdeutschen Bensheim. Er war am 19. Dezember 1956 als erster in die Freiheit geflohen – mit dem Frühzug von Storkow bis Königs Wusterhausen und dann mit der S-Bahn durchs noch ungeteilte Berlin.
Verabredungsgemäß folgten – bis auf vier Mädchen, die aus persönlichen bzw. familiären Gründen in der DDR blieben – die anderen Schüler zwischen Weihnachten und Neujahr, weil zu dieser Hoch-Zeit der familiären Begegnungen zwischen beiden deutschen Staaten die Kontrollen in den Zügen nach Berlin laxer waren. Sie fuhren immer mindestens zu zweit bzw. in kleinen Gruppen, um den Angehörigen Mitteilung machen zu können, wenn etwas schiefgelaufen wäre. Aus dem Aufnahmelager für „Zonenflüchtlinge“ in West-Berlin ging es dann Anfang 1957 geschlossen weiter an die hessische Bergstraße, wo sie in einer Sonderklasse ihr Abitur machen konnten. Lars Kraume hat die auch heutigen Kinobesuchern unter die Haut gehende Geschichte, die jeden Politiker Lügen straft, der immer noch von einem Rechtsstaat DDR spricht, möglichst nah am historischen Geschehen verfilmt.
Fünf Jahre vor dem Mauerbau sitzen die beiden Abiturienten Theo Lemke und Kurt Wächter im Schienenbus von Stalinstadt in die Hauptstadt der DDR. Sie schleichen sich heimlich durchs Klofenster in ein West-Berliner Kino, um einmal freizügige Filmszenen sehen zu können. Aber es sind andere nackte Tatsachen, die sie elektrisieren und die nicht im „Neuen Deutschland“ stehen: die „Neue Deutsche Wochenschau“ zeigt Bilder von der blutigen Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes durch sowjetische Panzer. Bilder, die auch am 17. Juni drei Jahre zuvor in Ost-Berlin entstanden sein könnten. Theos und Kurts Eindrücke machen rasch die Runde in der Klasse nach dem morgendlichen Fahnenappell. Paul lädt seine Mitschüler in die abseitig gelegene Behausung seines Großonkels Edgar ein, wo sie ungestört Rias hören können, den „Rundfunk im amerikanischen Sektor“. Dort wird die Nachricht vom Tod der Fußball-Legende verbreitet – eine Ente, wie sich später herausstellt.
Zu spät, denn da hat sich die Klasse mit der Mehrheit von zwölf Stimmen bereits für die beiden Schweigeminuten für die Opfer des Aufstands entschieden. Der Mathematiklehrer Mosel weiß sich nicht anders zu helfen, als die merkwürdige Angelegenheit dem Schuldirektor Schwarz zu melden. Der „Neulehrer“ aus der Arbeiterklasse will keinen Ärger, weder mit den Schülern, die so kurz vor dem Abitur stehen, noch gar mit vorgesetzten Behörden. Er sieht sich ohnehin unter verschärfter Beobachtung der ehrgeizigen Kreisschulrätin Kessler.
Doch als die Angelegenheit im Lehrerkollegium ruchbar wird, ist das Kind in den Brunnen gefallen: bis hin zum Volksbildungsminister Lange nach Berlin dringt die Kunde. Der hohe SED-Funktionär reist höchstselbst nach Stalinstadt und verkündet ein Ultimatum: sollte binnen einer Woche kein(e) Rädelsführer der „versuchten Konterrevolution“ benannt sein, erfolgt die kollektive Relegation der Abiturklasse. Aber selbst das Einspannen der Eltern, vom treuen SED-Genossen und Stadtratsvorsitzenden Hans Wächter bis zu Hermann Lemke, der beim Arbeiteraufstand 1953 dabei war und nun hier in der Provinz auf Bewährung malocht, kann den Zusammenhalt der Schüler nicht sprengen.
Im Gegenteil: Als Erik Babinski, Ziehsohn des evangelischen Pfarrers Melzer, in einem unbedachten Moment ausplaudert, bei wem die Klasse Rias gehört hat und es Edgar im wahren Wortsinn an den Kragen geht, weiß auch das letzte überzeugte FDJ-Blauhemd, welcher Methoden sich das Regime bedient. Und selbst ein Hans Wächter lässt seinen Sohn – bis zur Wiedervereinigung auf Nimmerwiedersehen – in den Westen ziehen, nachdem ein perfider Erpressungsversuch seiner Genossen bei Erik mit einem Foto seines als „Verräter“ aufgeknüpften leiblichen Vaters zu einem Ausbruch sinnloser Gewalt geführt hat...
Gedreht in Berlin und in der sozialistischen Musterstadt Eisenhüttenstadt schlägt „Das schweigende Klassenzimmer“ ein weitgehend unbekanntes Kapitel deutsch-deutscher Nachkriegsgeschichte auf. Großartig besetzt erzählt der Film vom außergewöhnlichen Mut Einzelner, sich einem Unterdrückungsregime zu widersetzen – in solidarischer Gemeinschaft. Theo, Kurt und die anderen sind in diesen Widerstand förmlich hineingerutscht, er war zumal so kurz vor dem Abitur nun wirklich nicht angesagt. Dietrich Garstka über die Leinwand-Adaption „seiner“ Geschichte im Studiocanal-Presseheft: „Diese Bedrohlichkeit hatte ich auf einmal wieder stark im Gefühl, denn der Film erzählt die Geschehnisse mit einer starken Sprache, mit starken Bildern. (…) Ja, so sind sie, dachte ich, ja, so waren sie, die Diktatoren, die sich auch gegen Jugendliche richten und sie ernst nehmen als Gefährder ihrer Macht, deren Protest sie durch nichts entschuldigen, weil sie fixiert waren, weil sie keine Veränderung duldeten. Die ganze Atmosphäre stimmt. Die Lebensfreude einerseits. Die Stimmung des Misstrauens andererseits. Intensiv.“
Pitt Herrmann