Bryan Chang über die Rezeption in China

Am 16. März 2006 hielt in der Hongkong Baptist University die Forschungsgesellschaft für Europäische Studien (European Studies Society) an der Fakultät für Geschichte ein Symposium mit dem Titel: "Faschismus und Antifaschismus: Aufarbeitung deutscher Geschichte im Film" ab. Der Film "Rosenstraße" (2003) der Regisseurin Margarethe von Trotta wurde gezeigt. Dazu luden die Veranstalter den "Papst" der Filmkritik, den Filmkritiker Lam Kee-to (Lin Jitao) von der Hongkonger Gesellschaft für filmkritische Studien ein, um mit den Studenten die zu diesem Thema gewonnenen Eindrücke zu diskutieren.

 

Hitler aus dem Weltall

Quelle: Concorde, DIF
"Rosenstraße" (2003)
 

Lam Kee-to ging dabei nicht der Herkunft und den Bedingungen der historischen Elemente im deutschen Film als ersten Sinnträgern auf den Grund, sondern verzichtete erst einmal auf die üblichen Muster einer Kritik des Faschismus und Antifaschismus, um den Studenten die Möglichkeit eines freieren Umgangs mit diesen Themen einzuräumen und sie selbständig eine aktuelle Bedeutung, eine tagtägliche Bedeutung des Faschismus und Antifaschismus in ihrem eigenen Umfeld herausfinden zu lassen. Zu diesem Zweck führte er einen nicht deutschen Film ("Contact",1997) an und zeigte den Studenten die Szene, in welcher der Wissenschaftler eine Botschaft aus dem Weltall entschlüsselt. Die dekodierte Botschaft sieht der Zuschauer am Ende der Szene, und zwar als einen Ausschnitt aus einer Hitlerrede! Lam Kee-to erklärte den Studenten, dass damals die Macht des Faschismus direkt aus den auch im Film zu sehenden "Mikrophonen" (Lautsprechern) floss: Wer den Zugriff auf die Medien besaß, der hatte die Macht darüber, die Massen durch den Faschismus in Bann zu ziehen. Mit dieser Sicht auf den Faschismus verlässt er die nur historische Definition. Die heutigen Staatsmaschinerien bewachen die Medien mit Argusaugen, weil auch sie fürchten, dass ihnen die Kontrolle verloren geht."Als ich die Studenten, welche die Organisation des Symposiums innehatten, fragte, warum sie sich mit der Thematik "Faschismus und Antifaschismus" auseinandersetzen wollten, konnten sie alle auf den diesjährigen 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs verweisen. Aber im Allgemeinen sind historische Interessen bei den Studenten in Hongkong nicht besonders entwickelt; auch haben sie nicht die Gewohnheit, sich über das Medium Film Einblicke in die Geschichte zu verschaffen." (Lam Kee-to)

Verschiedenste Reaktionen

Quelle: Constantin, DIF, © Constantin Film / Olga Film
"Napola" (2004)
 

In Hongkong existierte in den letzten Jahren keine interessante Szene für Filmkritiker mehr, die Kolumnen der Filmkritik in der Presse haben einen immer geringeren Stellenwert. Das Niveau der Filmmagazine ist gesunken, und sie haben inzwischen ausschließlich den Charakter von Unterhaltungsmagazinen. Die Filmmagazine, die von den Filmfans gelesen werden, kommen aus der Volksrepublik. Das Interesse vor Ort, die in den letzten Jahren in den Kinos gelaufenen Filme zum Zweiten Weltkrieg, wie "Der Pianist" (2002) und "Der Untergang" (2004), zu beleuchten, fiel in einem schon nicht mehr zu beschreibenden Maße gering aus, die ideologischen Interessen der Kritik reichten für eine fachliche Diskussion nicht mehr aus. Ganz anders auf Taiwan und auf dem Festland; dort fielen die Reaktionen sehr lebhaft aus, kein Feuilleton und keine Kinosparte der allgemeinen Presse versäumte es, über die lang anhaltende Aufmerksamkeit, welche der deutsche Film der jüngeren deutschen Geschichte zukommen lässt, zu berichten.Auf festlandchinesischen Websites finden sich Aufsätze, die einen gut strukturierten Abriss der Nachkrieggeschichte des deutschen Films vorstellen. Die deutschen Nachkriegsfilme, auf die verwiesen wird - "Die Blechtrommel" (1978), "Die Ehe der Maria Braun" (1978) und "Lili Marleen" (1980) - zeigen, dass die filmische Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg nie abriss. Durch die vielen filmisch umgesetzten Geschichten über die Kriegszeit bekunden die Filmemacher deutlich, dass sie das große Thema der "Wundnarbe ihrer Nation" nie ausblenden. Mag schon sein, dass der Ausgangspunkt für so manchen Filmschaffenden ein Selbstfindungsprozess war, und dass er auf diesem Wege die kollektive, nationale Schmach milderte.

Veränderung des Blickwinkels

Quelle: Roxy Film, DIF
"Lili Marleen" (1980)
 

Die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte führt in Deutschland zu immer hitziger geführten Diskussionen, regt immer dringlicher zu Werken an, deren vorrangiger Zweck das Hinterfragen der eigenen Vergangenheit ist. In diesem Zusammenhang werden im Web die Filme "Nichts als die Wahrheit" (1999), "Führer Ex" (2001), "Beruf: Neonazi" (1994) und "Nirgendwo in Afrika" (2001) explizit vorgestellt. Das Erscheinen des Films "Der Untergang" hat hitzige Diskussionen in den Internetforen entfacht. Im Film wird der tiefsinnige Satz "Jugend ist keine Entschuldigung für Unwissenheit" aus den Memoiren der Traudl Junge, der Privatsekretärin Hitlers, zitiert. Dieser Satz erfuhr im Web eine über die Maßen weite Verbreitung. Er steht nun induktiv für eine typisch deutsche Haltung der Selbstprüfung des Gewissens. In den Reportagen wird auch darauf hingewiesen, dass der deutsche Film der letzten Jahre eine Veränderung des "intervölkischen" Blickwinkels (inter-racial point of view) "Nazipartei gegen Juden" herbeiführte. Inzwischen werden auch die arischen/germanischen Opfer der Naziherrschaft gesehen. Die im Film "Napola" (2005) gezeigte ausgewählte jugendliche Elite sowie Sophie Scholl im Film "Sophie Scholl – Die letzten Tage" (2005) stellen heldenhafte Vorbilder des innerdeutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus dar: Wer wagte da noch zu sagen, dass die Deutschen jener Zeit alle verblendet gewesen wären?

Große Erfolge in Taiwan

Quelle: Unidoc, DIF
"Beruf Neonazi" (1993)
 

In Taiwan finden die Filme zur jüngeren deutschen Geschichte ein hohes Maß an Beachtung, über den Film "Der Untergang" wurde in umfangreichen Reportagen berichtet. Der Film "Sophie Scholl – Die letzten Tage" ist gerade exklusiv und sehr erfolgreich in Taipehs Kino "Spot - Taipei Film House" angelaufen. Der Wissenschaftler Lo Yu-tang (Luo Yetang) von der Taiwan National Sun Yat-sen University zitiert Peter F. Drucker aus "The End of Economic Man" (New York 1939). Er führt an, dass die Deutschen, obwohl sie in der Phase der Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs noch Hindernisse durch die rechten konservativen Kräfte zu erdulden hätten, aber, wenn man sie mit den Japanern vergleiche, ein Volk seien, welches tapfer der Verantwortung für die eigene Geschichte ins Auge sehe. Der maßgebliche Grund dafür sei darin zu suchen, dass die Deutschen das Auftreten des "Dritten Reiches" niemals als im Bereich des historisch Normalen und des von den Deutschen Gewollten gesehen hätten. Im Allgemeinen empfinde der Deutsche die Figur Hitler mit seiner nationalsozialistischen Gewaltherrschaft als einen Außenseiter innerhalb der deutschen Geschichte. Das ist das genaue Gegenteil von dem, was der Japaner im Allgemeinen empfindet. Der japanische Politiker identifiziert sich im tiefsten Herzen mit dem japanischen Militarismus, der jährlich wiederkehrende Besuch des Yasukuni Schreins (Yasukuni Jinja) wird als ein Akt der Übernahme der Verantwortung und des Angedenkens in pietätvoller Trauer gewertet.

Erst die Geschichte, dann der Film

Quelle: X Verleih, DIF, © Jürgen Olczyk
"Sophie Scholl - Die letzten Tage" (2004)
 

Das erklärt auch die unverändert positive Bewertung, die den deutschen Filmen zur jüngeren deutschen Geschichte in den festlandchinesischen und taiwanesischen Medien und Kritiken zukommt. Mehr oder weniger ist dies auch als eine Reaktion auf die gegenwärtigen politischen Umstände zu werten, denn man möchte mit Nachdruck betonen, dass die deutschen Filme ein von den japanischen völlig verschiedenes Gebaren der Vorgehensweise an den Tag legen. Die japanischen Filme haben natürlich auch große künstlerische Erfolge zu verzeichnen, es werden jedoch primär Spielfilme produziert, und die wirklich etwas hinterfragenden Filme sind nach wie vor vorrangig Dokumentarfilme. Unter den Spielfilmen des Mainstream-Kinos gibt es so gut wie kein Beispiel für einen den Militarismus kritisierenden Film. Hierin spiegelt sich genau das von Lam Kee-to erläuterte aktuelle Verständnis des Faschismus wider: Das Medium Film war schon früh für die totalitäre Staatsmaschine unverzichtbares Werkzeug der Volkserziehung. Aber auch heute hat sich nach dem Fall der Berliner Mauer und in Zeiten eines sich global entwickelnden Kapitalismus bisher nichts an diesem Umstand geändert. Aus diesem gezielten Interesse der Festlandchinesen und Taiwanesen am deutschen, den Faschismus verurteilenden Film lassen sich Rückschlüsse auf Art und Ausmaß des politischen Widerstands ziehen. Die Rezeption dieser neuen deutschen Filme hat bis zum gegenwärtigen Zeitpunk zumeist noch einen ideologischen Ausgangspunkt. Bei der akribischen Bearbeitung der Quellen in "Sophie Scholl – Die letzten Tage" zeigt sich eine Ästhetik, die von einer tiefgehenden selbstkritischen Haltung zeugt, wobei dieser Aspekt des Filmes noch sehr wenig besprochen ist. Deutlich ist dies ein Film, der eine Auseinandersetzung über Politik und Historie stärker bewertet als eine lobenswerte Arbeit in Bezug auf Kunst und Kultur. Mit anderen Worten, ein Film, der Geschichte thematisiert, ist immer zuerst Geschichte, dann erst Kinofilm: Da macht das deutsche historische Kino keine Ausnahme.

 

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Chang Wai-hung aus Hong Kong ist gegenwärtig Kommissionsmitglied der Hong Kong Screenwriters" Guild und der Hong Kong Film Critics Society