Ursula

DDR Schweiz 1977 TV-Spielfilm

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Heinz17herne
Heinz17herne
Landsknechte überqueren einen Alpenfluss über eine gebogene Natursteinbrücke. Schnitt. Soldaten stapfen im tiefen Schnee über einen Gletscher. Schnitt. Zur Drehleier- und Geigenmusik feiern ekstatische Bauersleute in einem Wirtshaus: „Und wenn‘s der Teufel wär, ich tanzte mit ihm!“. So beginnt Egon Günthers letzte Regiearbeit in der DDR, die Adaption der 1877 entstandenen Novelle „Ursula“ von Gottfried Keller. Die einzige Zusammenarbeit des DDR-Fernsehens mit der Schweiz, eine Gemeinschaftsproduktion der Babelsberger Defa und der Züricher Cine-Group, sollte sich zu einem handfesten Skandal in beiden Ländern entwickeln, der Hans Bentzien, stellv. Vorsitzender des Staatlichen Komitees für Fernsehen in der DDR, den Job gekostet hat.

1523, mitten in den Wirren der Reformationszeit, kehrt Hansli Gyr aus Frankreich, wo er für die Papisten gekämpft hat, auf seinen Hof im Züricher Oberland zurück. Der junge Bauer kennt sich nicht mehr aus: Seine Heimat hat sich dem charismatischen Prediger Huldrych Zwingli zugewandt, der im Zürcher Großmünster gegen Ablassbriefe, die Beichte, den Priesterzwang samt Zölibat, die Heiligenverehrung und schließlich den Papst selbst wettert. Fleißig, bescheiden, ehrlich und sittsam sollen die Gläubigen sein, welche auf bildliche Darstellungen in den Gotteshäusern ebenso verzichten können wie auf den Chorgesang.

Hansli Gyr stellt eine noch radikalere Veränderung in seiner unmittelbaren dörflichen Umgebung fest – und diese sogleich infrage: Seine Verlobte, die Bauerstochter Ursula (Filmdebüt der Schweizer Theaterschauspielerin Suzanne Stoll), kniet nicht mehr beim Beten, isst in der Passionszeit Fleisch und ist bereit, sich ihm hinzugeben ohne vorherigen offiziellen Segen ihrer Eltern. Ihr Vater Enoch Schnurrenberger hat sich zum Anführer einer Wiedertäufer-Sekte ausgerufen, der zusammen mit seiner Gattin und dem sich selbst Prophet Nummer Eins nennenden Schneck von Agasul die pure Anarchie vorlebt: Privateigentum ist wie Kindstaufe und Gottesfurcht abgeschafft, es herrscht bacchantische Zügellosigkeit in allen Bereichen.

„Jeder soll des Volkes Sittenrichter sein“ hat Zwingli proklamiert (unmittelbar in die Kamera Peter Brands) und beim Drucker Froschauer (Franz Viehmann) vervielfältigen lassen. Das nehmen die Wiedertäufer wörtlich und entziehen sich jeder Norm. Unterdessen herrscht in Zürich der Mob, die Kirchen werden geplündert und Scheiterhaufen entzündet: statt Hexen verbrennen nun Heiligenbilder und Kruzifixe. Hansli Gyr hat sich den Truppen Zwinglis angeschlossen und ist bald zum Rottenführer aufgestiegen. Es geht, wir schreiben inzwischen das Jahr 1529, gegen katholische Dörfer, die einen Pfarrer als Ketzer verbrannt haben, aber auch jenseits der Grenze am Comer See gegen die Residenz Giacomo Medicis, Opfer eines Geschützmeisters aus Hessen. Mord, Raub und Vergewaltigungen stehen auf der Tagesordnung und werden immer mehr zum Selbstzweck völlig verrohter Landsknechtshaufen. Gut und Böse bleiben ununterscheidbar bis zum Schluss, als Hansli Gyr und die vom zwischenzeitlichen religiösen Wahn genesene Ursula aufs heimische Anwesen zurückkehren…

Nach der Uraufführung am 5. November 1978 in der Schweiz hagelte es Proteste und Anzeigen, Letztere führten aber zu keinem Gerichtsverfahren. Die reformierte Kirche warf dem höchst unkonventionellen Film bewusste Provokation und Bloßstellung der Religion vor, bezogen auf die Wiedertäufer nicht ganz zu Unrecht: Bei Gottfried Keller negativ dargestellt, reüssiert die Sekte bei Egon Günther zur Nach-1968er-Utopie eines selbstbestimmt-freien Lebens. Die teilweise sehr drastischen, aus heutiger Sicht aber nicht wirklich blasphemischen Bilder sexueller Ausschweifungen waren auch nach der DDR-Erstausstrahlung am 19. November 1978 ein Hauptgrund, den Film im Adlershofer Giftschrank verschwinden zu lassen bis zur Wiederaufführung nach der Wende am 11. April 1990 im Deutschen Fernsehfunk.

Egon Günther, der noch im Uraufführungsjahr 1978 nach München übersiedelte und dort seine Regietätigkeit u.a. mit „Exil“ beinahe nahtlos fortsetzte, hat mit „Ursula“ seinen wahrscheinlich künstlerisch experimentierfreudigsten Defa-Film gedreht. Strukturiert durch die drei Zwischentitel „Die Propheten“, „Das Schloss des Grafen Musso“ und „Das Gefängnis in Zürich“ erzählt der am 30. März 1927 in Schneeberg/Erzgebirge geborene Schlosser, Lehrer, Lektor, Lyriker, Romancier, Autor, Regisseur und Filmhochschul-Professor in Babelsberg (und später in München) eine zutiefst humanistische Geschichte über Fanatismus, Wahn, Gewalt und Missbrauch der Macht selbst ernannter Gotteskrieger. Sie spielt zwar im frühen 16. Jahrhundert, weist aber durch unmittelbare Bezüge – von der Kleidung Zürcher Gottesdienstbesucher über Maschinengewehr-Salven und Geschützdonner in kriegszerstörter Landschaft bis hin zum Zetka-Drachenflieger eines abgestürzten Friedensstifters – auf das ausgehende 20. Jahrhundert hin.

„Ursula“ verfügt gleich über mehrere Erzähler, die Off-Stimme Egon Günthers sowie immer wieder andere Schauspieler, die aus ihren Rollen fallend direkt in die Kamera sprechen. Die Handlung wird zudem durchsetzt mit traumartigen Sequenzen, in denen etwa der Tod (Lothar Förster) hinter dem dornenbekrönten Heiland (Eckhard Bilz) her ist, um diesen zu erwürgen, oder der Teufel (Rainer Genss) die nach ekstatischem Tanz zusammengebrochene Ursula schultert und hinaus ins Freie trägt. Der Film ist in den 1980er Jahren in einer um einige besonders drastische Szenen gekürzten Fassung auch im bundesdeutschen Fernsehen ausgestrahlt worden, erstmals am 10. Juni 1982 im Süddeutschen Fernsehen (S 3).

Pitt Herrmann

Credits

Alle Credits

Titel

  • Originaltitel (DD CH) Ursula

Fassungen

Original

Länge:
3153 m, 115 min
Format:
35mm, 1:1,33
Bild/Ton:
Farbe, Ton
Aufführung:

TV-Erstsendung (CH): 05.11.1978, SRG