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Die beiden 13-jährigen Freundinnen Marie und Inga sind lebenslustige Mädchen mit den üblichen Teenagerproblemen: Jungs, Schule, Figur. In einer Hinsicht aber unterscheiden sich die Internatsschülerinnen von ihren Altersgenossinen: Marie und Inga sind blind. Die große Leidenschaft der beiden ist die Musik. Trotz ihres Talents werden sie von einer örtlichen Schülerband abgewiesen, mit der Begründung, Blinde seien nicht medientauglich. Gemeinsam mit Herbert, einem Russlanddeutschen, der bald nach Kasachstan zurückkehren will, gründen die Mädchen eine Straßenband – mit unerwartetem Erfolg.
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Schnitt. Zusammen mit ihrer ebenfalls 13-jährigen, aber ungleich größeren und, was Jungs-Bekanntschaften betrifft, erfahreneren Stubennachbarin Inga sitzt sie in der „Blindenklasse“ des Internats (gedreht wurde in der Landesschule Pforta, einem Internatsgymnasium im thüringischen Naumburg) an mechanischen Braille-Schreibmaschinen. Die Vorgaben der Musiklehrerin werden von den anderen bei weitem nicht so rasch umgesetzt wie von Marie. Als sie ihrer Banknachbarin Inga hilft, müssen beide vorzeitig den Unterricht verlassen: Pädagogisch ist das nicht.
„Trau bloß keinem Gucki“ sagt die auf den Flur strafversetzte Inga ihrer Freundin Marie aufgrund negativer Erfahrungen mit nicht sehbehinderten Jungs. Sie ist an den Wochenenden häufig bei ihren Eltern, während die zwar auf den ersten Blick so aufgeschlossen-interessierte, allen in ihrer Umgebung offen zugewandte und herzliche Marie auf den zweiten Blick introvertiert wirkt: Sie hat offenbar ihre Eltern bei einem Verkehrsunfall verloren und laboriert in stillen Stunden, in denen sie mit den Fingern über ein Familienfoto streicht, als könnte sie es wie in Braille-Schrift lesen, an ihren traumatischen Erinnerungen an das schreckliche Ereignis.
Als eine Schülerband im nächsten Ort (gedreht wurde in der Plattenbau-Siedlung Jena-Neulobeda) an einem gut dotierten TV-Wettbewerb teilnehmen will und Verstärkung sucht, kutschiert der empathische Herr Karl, so etwas wie das Mädchen für alles im Internat, die beiden musikalisch begabten Freundinnen in seinem alten Wartburg Kombi zum Casting. Inga ist ein Ass auf dem Saxophon, Marie ein Multitalent auf dem Klavier und der Gitarre. Ihr Vorspiel kommt an – aber nur musikalisch: Blinde sind aus Gucki-Sicht nicht medientauglich.
Ein Tiefschlag für die an derartige Herabsetzungen gewohnten Mädchen, denen selbst im Internat etwa durch die Köchin wenig Verständnis entgegengebracht wird. Während Inga daran zu zerbrechen droht, lässt sich Marie ihren lebensfrohen Optimismus durch die Dummheit und Ignoranz ihrer Umwelt nicht nehmen. Neuen Schwung in ihr Leben bringt mit Herbert (mit vergleichbarer Biographie: Oleg Rabcuk) ein einige Jahre älterer Russlanddeutscher. Der von seinem Vater als vermisst gemeldet worden ist: Herbert will zu seiner in Kasachstan gebliebenen Mutter und ihrer Familie zurückkehren.
Und das so heimlich wie die Unterkunft, die Marie dem fabelhaften Akkordeonspieler unterm Schlossdach verschafft. Der 500 Euro benötigt für den Transit mit einem LKW-Fahrer. Woher nehmen, zumal Herbert von der Polizei gesucht wird? Die drei verkleiden sich in Clowns und machen als „Die Blindgänger“ Straßenmusik – und das ziemlich erfolgreich unter den Augen ebenfalls spendabler Gesetzeshüter. Die es nicht verhindern können, dass auf Rollschuhen davonflitzende Straßenkids den Instrumentenkoffer mit allen Einnahmen klauen.
Da erinnert sich Marie an die Ausschreibung des Schülerband-Wettbewerbs. Mit Ingas aktuellem Freund Daniel als Schlagzeuger und der Hilfe des – mit seiner Genehmigung – in die Schlosskapelle verbannten Pförtners Onkel Leo wird heimlich um Musikraum geprobt und das Ergebnis mit Herrn Karls Videokamera aufgezeichnet. Naturgemäß ist die allseitige Freude groß, als die TV-Moderatorin die Sieger bekanntgibt: „Die Blindgänger“ haben tausend Euro gewonnen. Klar, dass die Hälfte davon für besagten Trucker (Norbert Heisterkamp) bestimmt ist, der Herbert nach einem kurzen Intermezzo mit einem Kriminalbeamten (Dieter Mann) mit gen Osten nimmt. Die toughe Marie bleibt allein auf dem Autobahn-Rastplatz zurück – ganz ohne Träne im Knopfloch und mit dem Blindenstock beinahe als Accessoire.
Hat es zuvor einen solchen unsentimentalen Familienfilm mit sehbehinderten Darstellern in den Hauptrollen gegeben? Der mit selbstironischem Humor eine Teenager-Geschichte erzählt, in der nicht nur die Lebenserfahrung, sondern auch die Wünsche und Träume der jungen Protagonistinnen im Mittelpunkt stehen, ihr aus unerschütterlichem Optimismus gespeister Mut und nicht ihre Behinderung. Zu verdanken haben wir diesen großartigen Film dem genreerfahrenen Helmut Dziuba und dem vergleichsweise jungen Bernd Sahling, die ihr Handwerk bei der Defa gelernt haben. Internationale Auszeichnungen erhielt Letzterer bei Festivals im kanadischen Quebec, in Chicago, in Amsterdam sowie im finnischen Oulu. Die TV-Erstausstrahlung war am 25. Dezember 2005 im ZDF.
Pitt Herrmann