Inhalt
Im "alten Geist" treffen sich die "Herrenmenschen" in den Salons in Argentinien, "Und wie geht es Herrn Mengele gesundheitlich?", fragen die Damen beim Tee. Mengele hat Angst vor dem israelischen Geheimdienst, vor dem deutschen nicht. Er trifft seinen langhaarigen Sohn in den 1960ern und nennt ihn ein Weichei. Der will wissen, was Papa in Auschwitz gemacht hat. Er erzählt es nicht und vom Schwarzweiß geht der Film über in Farbe und zeigt es uns eben. Da werden manche wegschauen müssen. Danach baden die Mengeles idyllisch am See, Aufnahmen mit der Amateurkamera. Und weiter geht's mit Szenen eines Orchesters Kleinwüchsiger, die neben den Wagons spielen, aus denen die Juden ausgeladen werden. Gespenstisch in Farbe. Bis 1979 wird dieser Mengele (jetzt wieder in Schwarzweiß) in Lateinamerika leben, immer voller Angst, entdeckt zu werden. Immerhin: Eine winzige Form von Buße. (MK)
Quelle: 21. Festival des deutschen Films Ludwigshafen am Rhein
 
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Buenos Aires, 1956. Unter dem Namen Gregor lebt Josef Mengele, der leitende Lagerarzt des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau, im Exil. Unterstützt durch ein Netzwerk Ewiggestriger und finanziert von seiner Familie, gelingt es ihm, über dreißig Jahre hinweg der internationalen Justiz – und besonders dem israelischen Geheimdienst Mossad – zu entkommen.
München, 1965. Josef Mengele ist aus Brasilien mit bundesdeutschem Pass zurückgekehrt zur Beerdigung seines Vaters Karl Mengele (Paraderolle für Burghart Klaußner). Der ihn nach Kriegsende zunächst in seinem Unternehmen im bayerischen Günzburg beherbergt hatte, umsorgt von Falk, dem langjährigen Butler der Familie. Zumal Konrad Adenauer einen Nazi-Ministerialrat wie den Juristen Hans Globke, Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassengesetze, in gleicher Funktion als Chef des Bundeskanzleramtes nach Bonn geholt und damit quasi rehabilitiert hat.
Josef Mengele aber setzt sich vorsichtshalber nach Argentinien ab. Wo er in der feudalen Villa Clara in Buenos Aires zu Wagner-Klängen unter Hakenkreuz-Flaggen Martha, die Witwe seines Bruders Alois, als seine zweite Frau heiratet. Und seine fürchterlichen medizinischen Versuche weiterführt, die 1960 zu seiner kurzzeitigen Verhaftung führen. Als in Deutschland ein Kopfpreis auf ihn ausgesetzt wird und der Mossad Adolf Eichmann entführt hat, zieht er zusammen mit Martha und wenigen Getreuen wie Wolfgang Gerhard nach Paraguay weiter.
Bis hierhin eine in Schwarzweiß gefilmte Biographie nach dem Roman „La disparition de Josef Mengele“ von Olivier Guez aus dem Jahr 2017, wird der erste deutschsprachige Film des hierzulande auch als Theaterregisseur bekannten Russen Kirill Serebrennikov plötzlich farbig: 1943 kehrt Josef Mengele nach einjährigem freiwilligen Sanitätsdienst bei der Waffen-SS an der Ostfront heim ins Reich und genießt zusammen mit Gattin Irene die auf den ersten Blick so friedliche erscheinende „Normalität“ der vergleichsweise paradiesischen Idylle an der Soła, einem Nebenfluss der Weichsel. Die beim Konzert eines Orchesters Kleinwüchsiger zur Selektion an der „Rampe“ von Auschwitz ins Grauen umschlägt.
1962, Brasilien, die Bilder werden wieder Schwarzweiß. In der Fazenda Santa Lucia ist Josef Mengele alias Peter Hochbichler als Farmer tätig, „experimentiert“ jetzt mit Tieren. Der „Todesengel von Auschwitz“ ist nach wie vor von seiner wissenschaftlichen Mission überzeugt, hadert aber mit seinem Schicksal als Exilant. Was ihn nicht daran hindert, gegenüber seinen ungarischstämmigen Gastgebern, die er als „Zigeunerpack“ beschimpft, die Herrenmensch-Attitüde herauszukehren.
São Paulo, 1978. Josef Mengele ist als Don Pedro auf seiner letzten Station bei Geza und Gitta Stammer gelandet. Ein von Alpträumen geplagter, kranker, einsamer Greis. Der nicht verstehen will, warum gerade er das Sinnbild des Bösen schlechthin darstellt: In Auschwitz gab es schließlich viele andere Ärzte. Den Rest gibt ihm ein unerwarteter Besucher: Sein inzwischen erwachsener Sohn aus erster Ehe, Rolf Mengele, ein langhaariger 30-jähriger Langzeit-Student, hat ihn aufgespürt und will seinen Erzeuger zur Rede stellen. Aber es kommt nur zu einem letzten, stummen Aufeinandertreffen zwischen den Generationen…
Kirill Serebrennikov erzählt, Hannah Arendts Erkenntnis von der „Banalität des Bösen“ entsprechend, aus der Perspektive Josef Mengeles und zeigt so, wie aus einem normalen, eher kleinbürgerlichen Menschen ein Monster werden kann. Dabei hat sich der Drehbuchautor und Regisseur eigenen Angaben zufolge von Jonathan Littells „Die Wohlgesinnten“ inspirieren lassen, dem Monolog eines SS-Offiziers. Sein Film ist in drei Kapitel gegliedert, die mit Mengeles Decknamen Gregor, Peter und Pedro betitelt sind. Josef Mengele, auf geradezu unheimliche Weise ganz selbstverständlich verkörpert vom herausragenden August Diehl, ist übrigens 1979 vor der Küste von Bertiogan ertrunken und unter dem Namen Wolfgang Gerhard bestattet worden.
Kirill Serebrennikov im DCM-Presseheft: „Was wird aus Kriegsverbrechern, wenn der Krieg vorbei ist? Gibt es so etwas wie eine göttliche Gerechtigkeit? Werden diese Menschen irgendwann von ihren Taten eingeholt? Die Frage nach Karma, Strafe, Gerechtigkeit – all das hat mich schon immer interessiert. Außerdem liefert das Buch von Olivier Guez dokumentarische Fakten und regt zugleich die Fantasie an: Es erlaubte mir, mir Vieles auszumalen, etwa die Begegnung zwischen Josef Mengele und seinem Sohn, denn man weiß nicht, was dort gesagt wurde – es gab keine Zeugen.“
Pitt Herrmann