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Oktober 1941. Frankreich ist bereits anderthalb Jahre von deutschen Truppen besetzt, als junge kommunistische Widerstandskämpfer einen Offizier der Wehrmacht erschießen. Als "Vergeltung" verlangt Hitler den Tod von 150 Franzosen. Es sollen vorwiegend junge Männer sein, die den Attentätern politisch nahe stehen. Die meisten der Männer werden aus einem Internierungslager für Gegner der Besatzungsmacht ausgewählt; ein erst 35-jähriger französischer Landrat muss die Opfer bestimmen. Während der Dorfpfarrer an Moral und Gewissen appelliert, erweisen sich die deutschen Militärs ebenso als Sklaven der Befehlshaber wie ihre französischen Helfer …
Bei seiner minutiösen Rekonstruktion des Geschehens stützt sich Volker Schlöndorff auf einen militärischen Geheimreport des Dichters und damaligen Wehrmachtsoffiziers Ernst Jünger sowie auf Abschiedsbriefe der 150 Männer. Der Film schildert die Vorgänge sowohl aus der Perspektive des 17-jährigen französischen Kommunisten Guy Môquet – er wurde eines der Opfer der Vergeltungsaktion und erlangte später in Frankreich Berühmtheit – als auch aus der Sicht eines fast gleichaltrigen deutschen Soldaten aus dem Hinrichtungskommando.
Quelle: 62. Internationale Filmfestspiele Berlin (Katalog)
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Nantes, Oktober 1941. Als junge Kommunisten einen Anschlag auf Wehrmachtsoffiziere ausüben, bei dem Oberst Hotz getötet wird, befiehlt Adolf Hitler eine umfassende Vergeltungsaktion, der 150 Franzosen im jugendlichen Alter der Attentäter zum Opfer fallen sollen. Der deutsche Botschafter in Paris, Otto Abetz, besteht auf sofortige Umsetzung des Führerbefehls, während der militärische Befehlshaber, General Otto von Stülpnagel, strikt gegen die Erschießungen ist, weil die Wehrmacht auf Kollaboration der Franzosen angewiesen ist: „So werden wir Frankreichs Herzen nicht gewinnen. Noch besitzen wir das Vertrauen der Bevölkerung. Vergessen Sie nicht, dass wir das ganze Land mit nur 1200 Offizieren verwalten. Die Leute in der Partei und die SS haben einfach keinen Sinn für Geschichte. Niemals hätte sich Napoleon so etwas in Preußen erlaubt.“
Diesen Satz Stülpnagels, gesprochen im Pariser Hotel Majestic, dem Hauptquartier der deutschen Besatzer, zu seiner rechten Hand Speidel, hat der als Oberst dem Führungsstab zugeteilte Schriftsteller Ernst Jünger notiert, akribisch wie alle weiteren Ereignisse. Jünger gibt sich als ein „Beobachter“ zu erkennen, der „in Ehre die Uniform trägt, wie es sich für einen Offizier gehört“, sich aber nicht berufen fühlt, „in die Weltgeschichte einzugreifen“.
Atlantikwall, Oktober 1941. Ein namenloser junger, friedliebender Wehrmachtssoldat (Jacob Matschenz), der dem Äußeren nach dem 21-jährigen Heinrich Böll ähnelt, welcher seine eigenen Kriegserlebnisse in seiner frühen Erzählung „Vermächtnis“ schildert, hat am eigenen Leib erfahren müssen, dass „Denker nicht erwünscht“ sind in der Westfront. Dabei gibt es über den Vorfall in Nantes und weitere blutige Aktionen der Resistance durchaus kontroverse Diskussionen in den Mannschaften. Selbst unter den Attentätern bricht eine Diskussion über die Sinnhaftigkeit solcher Anschläge aus, einer von den jungen Kommunisten will sich der Wehrmacht stellen, um den hohen Blutzoll der Racheaktion zu verhindern, wird aber von den beiden anderen daran gehindert.
Lager Choisel. Der selbst erst 35-jährige, frisch ernannte Landrat von Chateaubriand, Lecornu, hat sich lange Zeit dagegen gewehrt, die 150 Geiseln auszuwählen, die von den Deutschen hingerichtet werden sollen. Letztlich hatte jedoch der Wehrmachts-Kreiskommandant Kristucat die „schlagenderen“ Argumente als Abbé Moyon, dem nur noch bleibt, den Todgeweihten Abschiedsbriefe zu ermöglichen und den Transport ihrer Habseligkeiten an die Angehörigen zu versprechen.
Lecornu hat zusammen mit dem früheren Gewerkschafter und Kommunisten Chassange dessen einstige Genossen selektiert, dazu Juden, Evangelische und andere Randexistenzen aus seiner Sicht : „Ich konnte, ich durfte doch nicht gute Franzosen erschießen lassen.“ Dabei Jean-Pierre Timbaut, so etwas wie der Gefangenensprecher der „Politischen“, aber auch Claude Lalet, der längst freigesprochen ist und von seiner Ehefrau Eugenie am Lagertor erwartet wird. Jetzt bleiben ihr ganze zehn Minuten für einen Abschied für immer.
Bretagne, 22. Oktober 1941. Der namenlose junge deutsche Rekrut vom Atlantikwall gehört zu den Erschießungskommandos, weil er bei seiner Ankunft an der Westfront seinen Tornister auf dem Fahrrad eines Kameraden transportieren ließ, statt ihn selbst zu tragen. Zunächst verweigert er die Teilnahme, wird jedoch von seinem Kommandeur dazu gezwungen – und kippt ohnmächtig um. Diese letzte Szene in Volker Schlöndorffs über knapp neunzig Minuten jederzeit bewegendem Film „Das Meer am Morgen“ ist die einzige, die aus der Sicht dieses Heinrich Böll nachempfundenen jungen Deutschen geschildert wird. Der Regisseur im Vorwort zu Jüngers „Geiselfrage“: „Immerhin erlaubt mir Bölls Soldat einen Kontrapunkt einzuführen und die Ereignisse von einem weiteren deutschen Schriftsteller reflektieren zu lassen, wenn bei Böll auch Fiktion ist, was bei Jünger auf Tatsachen beruht. Beide Texte sind von einer starken persönlichen Haltung geprägt, an die es gut ist, sich zu erinnern, wann immer Europa in Frage gestellt wird.“
„Das Meer am Morgen“ offenbart die Unmenschlichkeit einer bürokratisch-gewissenlosen Kriegsmaschinerie, in der ein Rädchen ganz selbstverständlich ins andere greift und niemand nach dem „Warum“ fragt. Allerdings auch deshalb, weil alle Beteiligten und selbst der katholische Pfarrer nicht selbst Herren des Verfahrens sind, das von einer äußeren, unsichtbaren Macht gesteuert zu sein scheint. Anzeichen von Zivilcourage gibt es nur bei den Opfern, die kollektiv die Augenbinde verweigern in den Sekunden vor den tödlichen Schüssen.
Das Dokumentarspiel nach den Aufzeichnungen des Journalisten Pierre-Louis Basse, nach dem Bericht „Zur Geiselfrage“ von Ernst Jünger und der Erzählung „Vermächtnis“ von Heinrich Böll hält Deutschen und Franzosen gleichermaßen einen Spiegel vor und erhebt so zu Recht einen universellen Anspruch. Es erhielt beim Fernsehfilm-Festival Baden-Baden 2012 den Preis der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste und den Preis der Studenten der Filmakademie Baden-Württemberg, außerdem wurde Volker Schlöndorff beim Festival de Luchon 2012 mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet. Die TV-Erstausstrahlung erfolgte am 23. März 2012 auf Arte.
Pitt Herrmann