Inhalt
Der Tierarzt Dr. Otto Skrodt und seine Frau führen einen gut laufenden Reiterhof bei Berlin. Zudem sitzt er als Abgeordneter im Bundestag und spekuliert auf einen Posten als Staatssekretär. Doch der erfolgreiche Mann hütet ein dunkles Geheimnis: In seiner Vergangenheit war er ein hochkarätiger Spitzel für den Staatssicherheitsdienst der DDR und hat viele Freunde ohne ihr Wissen verraten. Eines Nachts bekommt er Besuch von Karl Kaminski, einem alten Freund, der vorgibt, sich für einen Neuanfang Geld leihen zu wollen. Kaminski, der keine Ahnung hat, dass er einst wegen Skrodt im Gefängnis saß, hatte zu DDR-Zeiten eine heimliche Beziehung mit dessen Tochter Isabelle. Skrodt, der um sein Geheimnis fürchtet, will den alten Freund so schnell wie möglich loswerden, dieser ist jedoch auf der Suche nach seiner ehemaligen Liebe. Die Situation droht außer Kontrolle zu geraten…
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Dr. Otto Skrodt hat es geschafft. Der einstige Tierarzt und, da kein SED-Parteimitglied, nur stellvertretende Klinikdirektor in der DDR-Provinz unweit der Hauptstadt praktiziert schon geraume Zeit nicht mehr, sondern bewirtschaftet mit seiner um einiges jüngeren, attraktiven Gattin Mandy einen Pferdehof. Unter der Woche aber ist der frischgebackene Bundestagsabgeordnete in Bonn unterwegs, auch, weil auf der Hardthöhe oberhalb der Noch-Bundeshauptstadt das Verteidigungsministerium angesiedelt ist. Otto Skrodt gilt als aufstrebendes Polit-Talent: jovial, bodenständig – und politisch nicht vorbelastet. Der Verteidigungsminister will ihn näher an sich binden und fliegt mit Gattin häufiger zum Essen per Hubschrauber aufs Gestüt.
Da holt Otto Skrodt plötzlich die Vergangenheit ein: Eines Nachts steht, bei strömendem Regen, Karl „Kalle“ Kaminski vor dem Hoftor. Sein jüngerer Berufskollege und einst bester Freund ist auf der Suche „nach den Leuten, die mich damals gefickt“ haben. Schon geht Otto der Arsch auf Grundeis und er meldet sich als „Brandenburger“ bei einem gewissen Werner, der als Heizer auf einem Potsdamer Friedhof arbeitet.
Rückblende. Genosse Werner, der spätere Stasi-Führungsoffizier des Informellen Mitarbeiters (IM) Brandenburger, und Stasi-Oberst Baum, konfrontieren den lebenslustigen Tierarzt Dr. Otto Skrodt mit kompromittierenden Fotos: Sex mit einer Minderjährigen. Otto kontert: das Mädchen sei in drei Wochen volljährig und werde seine Frau. Dennoch ist er bereit, sich auf Karl Kaminski ansetzen zu lassen.
Freilich nicht des Geldes wegen: Zum einen ist er fest davon überzeugt, „Kalle“ kollaboriere nicht mit dem Klassenfeind aus dem kapitalistischen Westen. Er teilt, wenn auch nur insgeheim, dessen Kritik am Vorhaben der staatlichen Planbehörde, im Zuge der Kollektivierung der Landwirtschaft im Havelland auf 10.000 Hektar Äpfel anzubauen zur ganzjährigen Versorgung der DDR-Bevölkerung mit frischem Obst. Kaminskis Urteil, dass derartige Monokulturen dem Boden schaden und zudem anfällig für Schädlingsbefall sind, kann der Tierarzt durchaus nachvollziehen. Andererseits geht ihm die Unbedingtheit, die Kompromisslosigkeit seines Freundes auf die Nerven: er befürchtet Schlimmeres und will ihn vor Unheil bewahren, indem er ein Auge auf „Kalle“ wirft.
Werner vermag Skrodt zunächst zu beruhigen: Von sieben Aktenmappen des Vorgangs Kaminski bei der Gauck-Behörde, sind sechs leer, es gibt keinerlei Hinweis auf den „Blauen“ IM Brandenburger, so bezeichnet nach der für Stasi-Spitzel verwandten Farbe der Dokumente – und schon gar nicht auf den Klarnamen. Andererseits forscht „Kalle“ nach Skrodts Tochter Isabelle, mit der er seinerzeit befreundet war. Und Papa Otto will partout die derzeitige Adresse der einstigen DDR-Ausnahmeschwimmerin nicht herausrücken – aus gutem Grund: Isabelle ist seinerzeit dahinter gekommen, warum „Kalle“ auf einmal spurlos im berüchtigten Bautzener Knast verschwunden ist – verhaftet in Ottos Schlauchboot mitten auf der Ostsee unweit Rügens.
Und dann das: Otto soll „Kalle“ beim Neuaufbau seines Hofes mit satten 100.000 Mark unter die Arme greifen. Eine verdeckte Erpressung? Jedenfalls ziert seit kurzem der Aufkleber „Ich bin Brandenburger“ den Daimler des Bundestagsabgeordneten – und den hat „Kalle“ auf der Kühlerhaube befestigt. So viele Zufälle gibt es doch gar nicht. Da muss Werner 'ran, der mit Kaminski ein Treffen in dessen alter Mosterei, die immer noch in Betrieb ist, verabredet.
Die alte Stasi-Connection hat den Fall der Mauer überdauert in Lienhard Wawrzyns hochkarätig besetzter Verfilmung seines 1990 bei Wagenbach erschienenen Romans „Der Blaue“, die alle Wendungen der Vorlage getreulich nachvollzieht: Otto ist eigentlich doch ein Menschenfreund, der „Kalle“ gleich zweimal aus den Fängen des von ihm beauftragten Werner befreit. Als Kaminski nach Norddeutschland fährt, um Isabelle wiederzusehen, die nun mit Martin zusammenlebt, erfährt er die Wahrheit. Über den Verrat seines besten Freundes Otto, aber auch über seine große Liebe Isabelle, die bei einem Schwimmwettkampf im Westen geblieben ist und so ihren Vater nur noch enger an die Stasi gebunden hat. Isabelle begleitet „Kalle“ nach Potsdam, wo sie Werner zu Rede stellen. Doch der so unscheinbare Mann weiß mit der ihm eigenen Eloquenz den Spieß umzudrehen: Isabelle, die in den Westen getürmt ist, sei in Wahrheit „die“ Blaue. Kaminski weiß nun gar nicht mehr, was richtig oder falsch ist...
„Der Blaue“ gehört zu den leisen, ausgewogenen Filmen des zu spektakulärer Schwarz-Weiß-Zeichnung neigenden Genres der Stasi-Streifen. Er darf durchaus als Vorläufer zum zehn Jahre später entstandenen Thriller „Das Leben der Anderen“ gelten. Der 1941 in Berlin geborene Autor, Schauspieler und Filmemacher Lienhard Wawrzyn offenbart Menschen hinter der Fassade des Verrats – und warnt gleichzeitig vor der Gefahr skrupelloser Ideologen hinter der Maske biederster Kleinbürgerlichkeit. Der Schoß ist fruchtbar noch, und das keineswegs nur in den neuen Bundesländern.
Pitt Herrmann