Der freie Wille

Deutschland 2004-2006 Spielfilm

Der freie Wille

Selbstdarstellung als Selbstzweck


Darf man so etwas zeigen? Muss man so etwas zeigen? Und wenn ja, wie zeigt man es? Unter den Wettbewerbsfilmen der diesjährigen Berlinale war der deutsche Beitrag "Der freie Wille" einer der umstrittensten. Der Film, eine Produktion des Regisseurs Matthias Glasner ("Die Mediocren", "Sexy Sadie") und seines Kompagnons Jürgen Vogel, erzählt von dem Versuch eines Serienvergewaltigers, sich selbst zu resozialisieren. Ob das Sujet angemessen in Szene gesetzt ist, diskutieren unsere Kritiker Barbara Schweizerhof und Rainer Gansera.

Rainer Gansera, epd Film, Nr. 8, 2006

CONTRA

"Der freie Wille" ist eine hundertdreiundsechzigminütige Filmfolter: banal, konfus, peinlich und peinigend. Ein eitel-theatralischer Exzess, der seine Krassheiten als Authentizitäts-Monstranz vor sich herträgt. Hauptdarsteller Jürgen Vogel, der sich selbst einen "bekennenden Selbstdarsteller" nennt, lässt seinen Selbstdarstellungstrieb derart unbekümmert von der Leine, dass Regisseur Matthias Glasner keinen freien Darstellungswillen mehr entfalten kann und gar nicht so genau weiß, wovon er eigentlich erzählen will.

Vogel spielt einen jungen Mann namens Theo und lässt ihn zu Beginn als aufgedunsenes Jähzornsmonster erscheinen. Weil beim Job in einer Großküche nicht alles nach seinem Willen läuft, rastet Theo aus, düst ab in die Dünen, schnappt sich, um seinen Frust abzureagieren, die nächste Radlerin, quält, foltert und vergewaltigt dieselbe in aller Ausführlichkeit. Die Darstellerin des Vergewaltigungsopfers darf in jeder Tonlage heulen, wimmern, kreischen, quieken. Eine splattrige Freakshow, die so tut - und das ist das wahrhaft Peinigende und die monströse Zumutung daran - als würde sie sich authentisch in den Sadismus des Vergewaltigers einfühlen.

Theo wird geschnappt. Zeitsprung. Nach neun Jahren kommt er aus dem so genannten Maßregelvollzug, wird in einer WG untergebracht, erhält einen Job, versucht ein "normales" Leben, trifft eine junge, fragile Frau, Nettie (Sabine Timoteo), die sich in ihn verliebt und ihn vielleicht durch Zärtlichkeit erlösen könnte. Aber nein, der böse Trieb ist stärker und dementiert die Freiheit des Wollens. Jürgen Vogel zeigt seinen durchtrainierten Körper und seine Kampfsportversiertheit, ergeht sich in Liegestützen, Klimmzügen (Abfuhr des Aggressionspotenzials!) und Einsamkeitsdemonstrationen, führt eine groteske Masturbationsnummer vor und lässt seinen Theo zu dem Entschluss kommen (Na endlich!, mag man als Zuschauer da ausrufen), sich umzubringen. Er sitzt am Strand und hantiert mit der Rasierklinge an der Pulsader, Nettie sitzt neben ihm und ist arg traurig. Es gelingt Sabine Timoteo, im wahrsten Sinne des Wortes Rotz und Wasser zu heulen, und diese Expressionshöchstleistung funktioniert wieder einmal als Selbstdarstellungszweck, der Eindruck schinden soll, so dass jede Darstellungswahrhaftigkeit ad absurdum geführt wird.



Bei der Beschreibung des Films ist man versucht zu sagen: Jürgen Vogel zeichnet das Porträt eines Vergewaltigers. Aber genau das findet nicht statt. Es geht dem Film gar nicht darum, Figuren stimmig zu konturieren oder Handlungen glaubwürdig zu komponieren. Er nimmt die Figuren zum Anlass für darstellerische Selbstinszenierung und voluntaristische Einfühlungsübungen. Vogel fördert dabei nur die banalsten Charakterisierungen zutage: Frustriertheit, Sprachlosigkeit und Einsamkeit, Aggression. Von der vielschichtigen, beklemmend dämonischen Getriebenheit eines Vergewaltigers oder gar von der Entstehungsgeschichte eines solchen Charakters wird dabei nichts sichtbar.

Zum Vergleich halte man sich bezwingende Triebtäter-Porträts vor Augen: in Fritz Langs "M" oder Renoirs Zola-Verfilmung "La Bête humaine", in den klassischen "Jekyll & Hyde"-Filmen oder Romuald Karmakars "Totmacher". So bekommt man eine Ahnung vom möglichen Reichtum in der Schilderung psychologischer, gesellschaftlicher, philosophisch-theologischer Dimensionen. Stattdessen bedient "Der freie Wille" durch die Art, wie er Frauenkörper filmt, das fatale, leider immer noch kursierende Argument, dass Frauen, die vergewaltigt werden, durch ihr provokantes Äußeres dazu herausfordern würden.

Truman Capote erzählt einmal von dem Phänomen, dass Gewalttäter in Aktion sich "wie in einem Film" vorkommen: Sie sind unfähig, ihr Gegenüber als wirkliche Person, als eigenwillige Entität wahrzunehmen und zu respektieren. Strukturell hat "Der freie Wille" denselben "Defekt": Er kann seine Figuren nicht als Personen wahrnehmen und zeichnen und verkauft diese Unfähigkeit als Einfühlungsleistung.

Rechtsstatus