Der freie Wille

Deutschland 2004-2006 Spielfilm

Der freie Wille

Gelungene Nahaufnahme eines Vergewaltigers



Darf man so etwas zeigen? Muss man so etwas zeigen? Und wenn ja, wie zeigt man es? Unter den Wettbewerbsfilmen der diesjährigen Berlinale war der deutsche Beitrag "Der freie Wille" einer der umstrittensten. Der Film, eine Produktion des Regisseurs Matthias Glasner ("Die Mediocren", "Sexy Sadie") und seines Kompagnons Jürgen Vogel, erzählt von dem Versuch eines Serienvergewaltigers, sich selbst zu resozialisieren. Ob das Sujet angemessen in Szene gesetzt ist, diskutieren unsere Kritiker Barbara Schweizerhof und Rainer Gansera.

Barbara Schweizerhof, epd Film, Nr. 8, 2006

PRO

Die Stimmungslage, mit der man einen Film wie "Der freie Wille" zu sichten beginnt, ist bestenfalls eine der gemischten Gefühle, wahrscheinlich überwiegen sogar die abwehrenden. Und nach 160 Minuten ist es im Grunde nicht viel anders: Der Film verweigert die Auflösung der widersprüchlichen Empfindungen zur Eindeutigkeit. Manche stört vielleicht gerade das. Darin liegt aber die große Stärke des Films: Tatsächlich bringt er seine Zuschauer dazu, ein unbekanntes Terrain zu durchschreiten, und was immer man vorher dachte und wusste über Vergewaltiger und Triebtäter, ist nach diesem Film ein wenig anders.

Quälend - und damit die emotional noch am leichtesten einzuordnende Szene - ist die Eröffnungssequenz, in der der von Jürgen Vogel gespielte Tellerwäscher Theo Stoer in den Dünen eine Fahrradfahrerin überfällt und vergewaltigt. Die desaturierten Farben des Films, die sich fließend bewegende Handkamera, die wie eine hartnäckige Verfolgerin beim Täter bleibt, der Verzicht auf rasante Schnitte - all das führt dazu, dass es hier nicht zu jener erotischen Aufladung kommt, die Vergewaltigungsszenen im Kino sonst oft erzeugen. Im Gegenteil, der Film bringt das Erbärmliche, vollkommen Unheroische der Gewalttat zum Vorschein. Es wird damit auch klargestellt, dass es im Folgenden nicht darum gehen kann, den Täter zu entschuldigen, wohl aber darum, sich, mit allem gebotenen Widerwillen, wenigstens momentweise an seine Stelle zu versetzen. Und damit beginnen die Ambivalenzen.

Der eigentliche Film setzt neun Jahre später ein, Theo Stöhr wird aus der Haft entlassen. Betreut von einem illusionslosen Sozialarbeiter (André Hennicke), findet er Unterkunft und einen Job in einer Druckerei. Während man ihn dabei beobachtet, wie er versucht, ein "normales" Leben zu führen, macht sich die nachhaltige Wirkung der quälenden Eröffnungssequenz erst richtig bemerkbar: Jede Szene ist von der bedrohlichen Spannung geprägt, Theo Stöhr könnte rückfällig werden. Alltägliche Dinge wie das Dekolleté einer Serviererin oder ein Reklameplakat für Unterwäsche verlieren ihre Neutralität. Die Stadt mit ihren unbelebten Straßen, Tiefgaragen und leeren Einkaufspassagen wird zum bedrohlichen Raum. Genauso wenig wie der Zuschauer scheint auch der therapierte Täter zu wissen, was die Wirklichkeit in ihm alles auslösen kann.



Es ist dieser unerbittliche Blick nach vorn, der dem Film seine Wucht verleiht: An keiner Stelle beschäftigt er sich mit der sonst üblichen Motivsuche in Kindheitstraumata und Ähnlichem. Den Titel "Der freie Wille" muss man deshalb als Frage auffassen: Gibt es für diesen getriebenen Täter eine Möglichkeit, dem Rückfall willentlich zu widerstehen?

In der Druckerei lernt Stöhr die Tochter seines Chefs kennen, Nettie (Sabine Timoteo). Woanders wäre das der Beginn einer romantischen Komödie: Nettie lässt Theo gegenüber fallen, dass sie Männer hasst, und der kann darauf mit bezeichnender Erleichterung antworten, er seinerseits könne Frauen nicht ausstehen. Wie bei klassischen Romanzen ermöglicht das Hindernis der gegenseitigen Abneigung den Brückenschlag des "zwanglosen", weil jenseits von Konventionen stattfindenden Kennenlernens.

Durch Nettie erfährt der Zuschauer, zu welch liebevollen Gesten der sonst wie gepanzert erscheinende Theo fähig ist. Sie ist gerade im Begriff, sich von einem psychisch übergriffigen Vater (Manfred Zapatka) zu lösen, in dessen klebrig-sentimentaler Anhänglichkeit sich ein Missbrauchsverhältnis andeutet. Ähnlich sind sich die beiden in ihrer sozialen Isoliertheit und einer tief verinnerlichten Einsamkeit, aus der sie auch das Zusammensein nicht wirklich erlöst. Während er es fast vermeidet, sie anzuschauen, um nicht dem lauerndem Blick zu verfallen, den er auf seine Opfer wirft, beobachtet umgekehrt Nettie Theo mit zunehmender Paranoia. Bald setzt sie sich mit von ihm vergewaltigten Frauen in Verbindung und geht ihm nachts auf der Straße nach. Durch ihre Beobachtungen vermitteln sich auch dem Zuschauer intimere Einblicke in Theos zerrissenen Seelenzustand: Seine Gewaltbereitschaft gegenüber Frauen ist vom Zwiespalt geprägt, etwas von ihnen zu wollen und sie gleichzeitig zu hassen - nicht zuletzt für die Bedürftigkeit, die sie in ihm auslösen.

Der Film nimmt sich seine Zeit - und die braucht er auch angesichts der widersprüchlichen Gefühle, die er weckt. Die Liebesgeschichte zwischen Theo und Nettie stellt weniger die Rettung dieser beiden Figuren in Aussicht, als dass sie eine Zuspitzung ihrer persönlichen Konflikte bewirkt - und der Zuschauer sieht sich unweigerlich involviert. Selbst die Lösung, die der Film am Ende doch noch anbietet, kann ihn aus dem Dilemma von Empathie und Abscheu nicht mehr befreien.

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