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Der 60-jährige Walter ist Möbelpacker für Zwangsräumungen. Er ist der treueste Schlepper, den Walters Chef Roland Grone in seiner Spedition hat. Walter ignoriert die Schmerzen, die ihm der Knochenjob bereitet, ebenso wie das Leid der Menschen, in deren Privatsphäre er täglich eindringt. Grone plant mit Hilfe eines zwielichtigen Familienklans ein riskantes Immobiliengeschäft. Ein Altbau soll entmietet und teuer weiterverkauft werden. Nur: Der letzte Mieter weigert sich auszuziehen. Walter glaubt, in dem jungen Mann seinen Sohn wiederzuerkennen, den er vor Jahrzehnten im Stich gelassen und seitdem nie wiedergesehen hat. Ohne sich ihm zu offenbaren, nähert sich Walter seinem Sohn Jan und dessen Familie behutsam an. Als ihm klar wird, wie unberechenbar die Männer sind, auf die sich Grone eingelassen hat, gerät Walter zunehmend unter Druck.
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Walters Chef Roland Grone plant mit dem Knowhow des so korrupten wie zynischen Gerichtsvollziehers Alfred und finanzieller wie schlagkräftiger Unterstützung des zwielichtigen arabischen Familienclans der Afsaris ein nur in Ausnahmefällen riskantes Immobiliengeschäft: Er kauft bewohnte Häuser billig auf, entmietet sie notfalls mit kriminellen Methoden und verkauft sie für ein Vielfaches. Was Grones Geschäftspartnern aus der Wettmafiaszene zudem die Gelegenheit gibt, schmutziges Geld zu waschen. Weil Vertrauen gut, Kontrolle aber besser ist, hat die weitverzweigte Großfamilie mit Moussa Afsari einen Schrank von einem Mann abgestellt, um Grone zu überwachen und gleichzeitig renitente Mieter zur Aufgabe zu zwingen. Ein solcher ist Jan Haller, der mit Frau Julia und vierjährigem Söhnchen Karl (Johannes Grevers) eine schöne Altbauwohnung in einem noch funktionierenden und entsprechend teuren Villenviertel Mainhattans bewohnt. Seit Jahr und Tag prozessiert er um Wohnrecht und Kündigungsfristen, nun sollen die Hallers zwangsgeräumt werden, obwohl Alfred Hoppe weiß, dass der Räumungstitel bereits vor vier Tagen vom Gericht aufgehoben worden ist. Als die Situation zu eskalieren droht, vor allem weil Moussa, der schon drei Jahre wegen Totschlag gesessen hat, irgendeine Art von Widerspruch nicht gewohnt ist, sorgt der gelassene „Alte“ für Entspannung.
Dabei kann von solcher bei Walter gar keine Rede sein, meint er doch in Jan Haller seinen verlorenen Sohn wiedergefunden zu haben. Natürlich nähert er sich der neuen Situation mit gebotener Vorsicht an, nimmt zunächst mit der warmherzigen Julia näheren Kontakt auf, schenkt seinem potentiellen Enkel Spielzeug. Und die Schwiegertochter in spe erkennt sogleich seine Empathie hinter der coolen Fassade des im Grunde unbeteiligten Möbelpackers. Weil ihm klar ist, wie unberechenbar die Afsaris sind, auf die sich sein Chef Grone eingelassen hat, muss Walter sich absichern – und gerät dennoch zunehmend unter Druck von zwei Seiten…
„Atlas“, das Langfilmdebüt des 1980 in Berlin geborenen, in Deutschland und Iran aufgewachsenen Autors und Regisseurs David Nawrath, bereits 2015 mit dem Emder Drehbuchpreis ausgezeichnet, ist ein erfreulich unspektakuläres deutsches Melodram mit ausgesprochenen Thrillerqualitäten. Ohne zu viel verraten zu wollen, braucht es noch viele überraschende Volten und einige Todesfälle, bis Walter, der die Bürde seines Lebens klaglos schultert wie einst der Titan Atlas den Globus in der griechischen Mythologie, seinen Sohn Jan und die Seinen aus der lebensbedrohlichen Umklammerung des Clans befreit hat. Dafür landet er selbst hinter Gittern – zumindest vorerst. Und erhält schon bald Familienbesuch in der Justizvollzugsanstalt…
Uraufgeführt am 24. Oktober 2018 bei den 52. Int. Hofer Filmtagen und im gleichen Jahr beim Torino Int. Festival im italienischen Turin mit dem Special Jury Award und dem Preis für Rainer Bock als bestem Hauptdarsteller bedacht, ist in nur 29 Drehtagen ein kleines Juwel entstanden: eine zu Herzen gehende Familiengeschichte mit authentisch-sozialkritischer Bankfurt-Krankfurt-Story, die ganz ohne die Wolkenkratzer-Skyline der europäischen Hochfinanz auskommt. Sie könnte unter dem Aspekt der Gentrifizierung statt am Main auch an der Spree spielen, was aus „Atlas“ aber, wie Henrike Bake im hauptstädtischen „Indiekino“ schreibt, noch keinen „Berlin-Krimi“ macht. Der einmal mehr großartige Rainer Bock, der mit minimaler Gestik und Mimik einen ganzen Kosmos eröffnet, ist ein in unzähligen mittleren und kleineren Rollen („Wonder Woman“, „Das weiße Band“, „Barbara“) markant-bekanntes Gesicht auf Leinwand und Bildschirm. Der gebürtige Kieler des Jahrgangs 1954, dessen Theater-Karriere über Stuttgart, dem Bayerischen Staatsschauspiel München, dem Züricher und dem Düsseldorfer Schauspielhaus bis zu den Salzburger Festspielen führte, im Presseheft-Gespräch mit Nataly Bleuel: „Es geht hier im Doppelsinne um das Grundrecht auf Behausung - in einem räumlichen und in einem menschlichen Sinne. Jan droht sein Haus zu verlieren. Und Walter ist als Mensch unbehaust.“ Free-TV-Premiere von „Atlas“ ist am 25. März 2021 auf Arte.
Pitt Herrmann