Berlinale Forum 2020: Zeitebenen wie ungestüme Fohlen

2020 ist ein Jahr der vielen Neuerungen. Das Berlinale Forum hat mit Cristina Nord eine neue Leiterin und ein neues Auswahlverfahren, unter den Berater*innen und im Auswahlkomitee finden sich viele neue Köpfe. Zugleich ist es ein Jahr, in dem der Tradition eine besonders große Bedeutung zukommt, denn die unabhängige Sektion der Berlinale, verantwortet vom Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V., feiert ihr 50. Jubiläum.

 

Dieses Ineinandergreifen von Neuem und Altem, von Aufbruch und Bestehendem, überträgt sich leitmotivisch auf die Filmauswahl. Viele der 35 Titel im aktuellen Programm – 28 davon sind Weltpremieren - zeichnen sich dadurch aus, dass sie nach Wegen suchen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu vermitteln. Für den Eröffnungsfilm, "El tango del viudo y su espejo deformante" ("The Tango of the Widower and its Distorting Mirror") von Raúl Ruiz und Valeria Sarmiento, gilt dies in besonderem Maße: Ruiz drehte ihn 1967 in Chile und konnte ihn nicht fertigstellen, bevor er 1973 ins Exil ging. Die Schnittmeisterin, Regisseurin und Ruiz’ Witwe Valeria Sarmiento hat das Material in einem aufwendigen Verfahren in einen fertigen Film verwandelt. Der experimentiert auf herrlich eigensinnige Weise mit der eigenen Zeitlichkeit, denn er umgreift das halbe Jahrhundert seiner Entstehung, und er lässt seine Narration vorwärts und – buchstäblich – rückwärts laufen.

Andere Filme – etwa Clarissa Thiemes "Was bleibt", "Šta ostaje", "What remains / Re-visited", Radu Judes "Tipografic majuscul" ("Uppercase Print") oder Jonathan Perels "Responsabilidad empresarial" ("Corporate Accountability") – fragen, wie sich die politischen Verwerfungen der jüngeren Geschichte in Filmbilder übersetzen lassen und erproben dabei essayistische Formen. "Ouvertures", gedreht von einem Kollektiv rund um die Regisseure Louis Henderson und Olivier Marboeuf, blickt zurück auf die haitianische Revolution und die Aporien der Aufklärung. In Paula Gaitáns mehr als vierstündigem "Luz nos trópicos" ("Light in the Tropics") galoppieren die Zeitebenen hin und her wie ungestüme Fohlen, was in eine fulminante Hommage an die Wälder und Flüsse Nord- und Südamerikas und an die indigenen Menschen, die dort leben, mündet. Das verbindet ihn mit weiteren Filmen des Programms, die wie Viera Čákanyovás "Frem" oder Lois Patiños "Lúa vermella" ("Red Moon Tide") das prekär gewordene Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt erkunden.

"Anne at 13,000 ft"
Kanada / USA
von Kazik Radwanski
Europäische Premiere

"Anunciaron tormenta" ("A Storm Was Coming")
Spanien
von Javier Fernández Vázquez
Weltpremiere

"Chico ventana también quisiera tener un submarino" ("Window Boy Would Also Like to Have A Submarine")
Uruguay / Argentinien / Brasilien / Niederlande / Philippinen
von Alex Piperno
Weltpremiere

"El tango del viudo y su espejo deformante" ("The Tango of the Widower and its Distorting Mirror")
Chile
von Raúl Ruiz, Valeria Sarmiento
Weltpremiere

"Entre perro y lobo"
Kuba / Spanien
von Irene Gutiérrez
Weltpremiere

"Eyimofe" ("This Is My Desire")
Nigeria / USA
von Arie Esiri, Chuko Esiri
Weltpremiere

"Frem"
Tschechische Republik / Slowakische Republik
von Viera Čákanyová
Internationale Premiere

"Generations"
USA
von Lynne Siefert
Weltpremiere

"Gli appunti di Anna Azzori / Uno specchio che viaggia nel tempo" ("The Notes of Anna Azzori / A Mirror that Travels through Time")
Österreich / Deutschland / Frankreich
von Constanze Ruhm
Weltpremiere

"Gorod usnul" ("In Deep Sleep")
Russische Föderation
von Maria Ignatenko
Weltpremiere

"Grève ou crève" ("Strike or Die")
Frankreich
von Jonathan Rescigno
Weltpremiere

"Ieşirea trenurilor din gară" ("The Exit of The Trains")
Rumänien
von Radu Jude, Adrian Cioflâncă
Weltpremiere

"Kama fissamaa' kathalika ala al-ard" ("As Above So Below")
Libanon
von Sarah Francis
Weltpremiere

"Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist"
Deutschland
von Sabine Herpich
Weltpremiere

"La casa dell’amore" ("The House of Love")
Italien
von Luca Ferri
Weltpremiere

"Lúa vermella" ("Red Moon Tide")
Spanien
von Lois Patiño
Weltpremiere

"Luz nos trópicos" ("Light in the Tropics")
Brasilien
von Paula Gaitán
Weltpremiere

"Maggie’s Farm"
USA
von James Benning
Weltpremiere

"Medium"
Argentinien
von Edgardo Cozarinsky
Weltpremiere

"Namo" ("The Alien")
Iran
von Nader Saeivar
Weltpremiere

"Oeconomia"
Deutschland
von Carmen Losmann
Weltpremiere

"Ouvertures"
Vereinigtes Königreich / Frankreich
von Louis Henderson, Olivier Marboeuf in Zusammenarbeit mit The Living and the Dead Ensemble
Weltpremiere

"Petit Samedi"
Belgien
von Paola Sermon-Daï
Weltpremiere

"Ping jing" ("The Calming")
China
von Song Fang
Weltpremiere

"Responsabilidad empresarial" ("Corporate Accountability")
Argentinien
von Jonathan Perel
Weltpremiere

"Seishin 0" ("Zero")
Japan / USA
von Kazuhiro Soda
Europäische Premiere

"Tipografic majuscul" ("Uppercase Print")
Rumänien
von Radu Jude
Internationale Premiere

"Traverser"
Frankreich / Côte d’Ivoire
von Joël Richmond Mathieu Akafou
Weltpremiere

"The Twentieth Century"
Kanada
von Matthew Rankin
Europäische Premiere

"The Two Sights"
Kanada / Vereinigtes Königreich
von Joshua Bonnetta
Weltpremiere

"Victoria"
Belgien
von Sofie Benoot, Liesbeth De Ceulaer, Isabelle Tollenaere
Weltpremiere

"The Viewing Booth"
Israel / USA
von Ra’anan Alexandrowicz
Internationale Premiere

"Vil, má" ("Divinely Evil")
Brasilien
von Gustavo Vinagre
Weltpremiere

"Was bleibt, "Šta ostaje", "What remains / Re-visited"
Deutschland / Österreich / Bosnien und Herzegowina
von Clarissa Thieme
Weltpremiere

"Zeus Machine. L’invincibile" ("Zeus Machine. The Invincible")
Italien
von Nadia Ranocchi, David Zamagni
Internationale Premiere

Ergänzt wird die Filmauswahl durch das dem ersten Forums-Jahrgang 1971 gewidmete Jubiläumsprogramm. Siehe Meldung vom 20. Dezember 2019.

Quelle: www.berlinale.de