Inhalt
Deutschland, 1962: Die zwölfjährige Karla läuft von zuhause davon, weil sie Hilfe sucht – sie wurde über Jahre hinweg von ihrem Vater sexuell missbraucht und hat nun den Entschluss gefasst, ihn dafür zur Rechenschaft ziehen zu lassen. Der Schritt ist umso mutiger, da sie mit ihrer Entscheidung an ein meist geleugnetes Tabuthema rührt. In dem erfahrenen Richter Lamy findet sie einen Mann, der ihr glaubt und bereit ist, den schwierigen Weg mit ihr gemeinsam zu gehen – denn noch nie zuvor hatte es jemand gewagt, den eigenen Vater wegen Missbrauchs zu verklagen. Da es der traumatisierten Karla schwerfällt, das ganze Ausmaß ihres Leidens zu schildern, schafft Lamy einen seelischen Schutzraum und gibt dem Mädchen die Freiheit, ihre Geschichte nach ihren eigenen Vorstellungen zu erzählen. Mit dieser unkonventionellen Methode setzt Lamy jedoch seine eigene Karriere aufs Spiel.
Kommentare
Sie haben diesen Film gesehen? Dann freuen wir uns auf Ihren Beitrag!
Jetzt anmelden oder registrieren und Kommentar schreiben.
„Du bist also Karla“: Es dauert eine Weile, bis Dr. Friedrich Lamy (einmal mehr ausdrucksstark mit minimalster Gestik und Mimik: Rainer Bock) in der Wachstube auftaucht. Der ältere, konservativ gekleidete Richter ist neugierig auf das junge Mädchen, das, sich auf Paragraph 176 des Strafgesetzbuches berufend, ihren Stiefvater Karl Ebel (Torben Liebrecht), der die unehelich Geborene nach der Hochzeit mit ihrer Mutter adoptierte, der mehrfachen Vergewaltigung bezichtigt. Den zu dieser Zeit höchst seltenen Fall würde er am liebsten abgeben so kurz vor seiner Pensionierung. Zumal sich auch Staatsanwalt Fries (Robert Hunger-Bühler) wenig begeistert zeigt, da er öffentliche Aufmerksamkeit fürchtet.
Nach einem ersten Gespräch wird Karla in ein Nonnenstift gebracht und teilt ihr Zimmer mit Ada (Carlotta von Falkenhayn), die eigentlich – Relikt aus vergangenen dunklen Zeiten – Adolfine heißt und auf den Strich gegangen war. Sie bereitet Karla auf das „Arbeitslager“ vor, das von Schwester Theresa (Ulla Geiger) mit harter Hand geführt wird. „Wie du so fröhlich sein kannst mit deiner Geschichte“: Theresa entreißt Karla die Gitarre, die ihr Ada zur seelischen Aufmunterung geliehen hatte.
Solche höchst unchristlichen Schikanen bereiten Karla weniger Schwierigkeiten als dem zunächst sehr schroff erscheinenden Richter an seinem Schreibtisch „Tat und Tathergang vollumfänglich“ zu schildern. Als Voraussetzung dafür, überhaupt ein Verfahren zu eröffnen. Wozu auch eine medizinische Untersuchung bei Dr. Ulf Steinring (Ben Braun) gehört, der Karla entsetzt entflieht. Immer wieder muss sich die Zwölfjährige übergeben, wenn sie sich an die Taten ihres „Vaters“ erinnert. Ihr Bruder Franz fällt als Belastungszeuge aus, da er nur über die allgemeine Gewaltausübung des Vaters spricht.
Ohne die empathische, geradezu mütterliche Betreuung von Erika Steinberg (Imogen Kogge komplettiert ein großartiges Ensemble), der Sekretärin des Richters, hätte Karla nie ihr Schneckenhaus verlassen, um über Unaussprechliches zu reden. „Manchmal braucht man nur eine Insel, einen Menschen, eine Straße, einen Augenblick, um zu überleben“ zitiert Steinberg die Dichterin Mascha Kaléko und überzeugt damit in einer der zentralen, unter die Haut gehenden Szenen den von ihr sehr verehrten Richter Lamy, der wie sie unter den tiefen, lebenslang nicht verheilenden Wunden des Dritten Reiches leidet. Aber mehr als sie mit dem Überleben hadert.
Der Richter greift zu dem überraschenden Hilfsmittel einer Stimmgabel: Karla kann mit diesem Geheimzeichen einen Ton erzeugen, wenn ihr – noch – die Sprache fehlt. Und findet so langsam ihre eigene Stimme bis hin zum Prozess, wo sie ihrem Peiniger gegenübersteht und die Zumutungen seines Verteidigers Schmitt (Frank Vockroth) ertragen muss…
Inspiriert von einem mit Schwarz-Weiß-Fotos dokumentierten wahren Gerichtsfall aus der unmittelbaren familiären Umgebung der Drehbuchautorin Yvonne Görlach erzählt „Karla“ von einem jungen Mädchen, das den Mut findet, für sich selbst einzustehen – und dadurch auch anderen eine Stimme gibt. Elise Krieps, am 8. September 2010 in Berlin zur Welt gekommen als Tochter der vielfach ausgezeichneten Schauspielerin Vicky Krieps („Die Vermessung der Welt“, „Das Zimmermädchen Lynn“, „Das Boot“, „Corsage“), berührt in ihrer ersten Hauptrolle mit stiller Kraft und unerschütterlicher Präsenz an der Seite von Rainer Bock und Imogen Kogge.
Das so intime wie kraftvolle Kammerspiel über Zivilcourage, Selbstermächtigung und das Recht, gehört zu werden, ist ganz auf die Hauptfiguren fokussiert: „Wir erzählen ganz aus Karlas Perspektive – und immer auf Augenhöhe mit ihr. Mir war wichtig, dass das Publikum die Welt durch ihren Blick wahrnimmt, durch ihren inneren Filter. So wird auch das Nicht-Gehörtwerden, diese fundamentale Ungerechtigkeit, direkt spürbar“, so die Regisseurin Christina Tournatzẽs im Eksystent-Presseheft. „Karla“ ist das Langfilm-Debüt der 1992 geborenen deutschgriechischen Münchnerin, die ihr Regiestudium an der Macromedia Akademie für Medien und Design mit dem weltweit auf über 50 Festivals gezeigten fiktionalen Kurzfilm „Cargo – Der Transport“ abschloss.
Pitt Herrmann