Jeder für sich und Gott gegen alle

BR Deutschland 1974 Spielfilm

Inhalt

Gefangen in einem unterirdischen Verlies, besteht für den jungen Kaspar Hauser der einzige Kontakt zur Außenwelt in einem maskierten Mann, der ihn mit Wasser und Brot versorgt. Von ihm lernt Kaspar auch ein paar Worte und ein wenig schreiben. In diesem Zustand verbringt Kaspar von klein auf viele Jahre seines Lebens – bis der maskierte Unbekannte ihn eines Tages mit einem Brief in der Hand in der Stadt aussetzt. Das Auftauchen des jungen Mannes erregt großes Aufsehen. Zunächst kommt Kaspar bei der Familie eines Gefängniswärters unter, später wird er im Hause eines Professors aufgenommen. Schon bald lebt er sich in der für ihn völlig neuen Welt ein, entwickelt sich zu einem selbstständigen, intelligenten jungen Mann. Dann aber wird ein Mordanschlag auf Kaspar Hauser verübt.

 

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Falk Schwarz
Der harte Sturz des Kaspar Hauser
Ein Unbekannter kommt in die Höhle, in der Kaspar Hauser vor sich hin vegetiert. Er richtet ihn auf, denn von allein kann Kaspar nicht stehen. Er bindet ihm die Hände zusammen und zwängt sich dann mit dem Kopf zwischen Kaspars Arme hindurch, hebt ihn an und trägt den Gehunfähigen auf dem Rücken aus dem Verlies heraus. Sie kommen über einen Höhenzug mit einem weiten Blick in die Täler. Der Unbekannte bleibt stehen und wirft Kaspar ab wie einen Kartoffelsack. Kaspar legt sich auf die Seite, den Rücken abgewandt zur Aussicht, und stiert auf das Gras, das er zum ersten Mal in seinem Leben zu sehen scheint. Der Unbekannte sitzt hinter ihm , schaut in das Tal (wir sehen ihn von hinten) und in einer langen ruhigen Einstellung prägt sich dieses Bild ein. Kaspar ist in Freiheit, doch wozu wird sie ihm nützen? - Werner Herzog hat das Drehbuch zu seinem Film in einer Woche geschrieben und er lässt die ganze reichhaltige Literatur zu diesem rätselhaften Fall beiseite und konzentriert sich nur auf diesen Kaspar. Keine Einstellung ohne ihn. Dabei ist der Darsteller, Bruno S., ein Straßenmusikant mit einer schlimmen Vergangenheit und einem Gesicht, das zwischen Verstehen, eigenartiger Intelligenz und Unbeholfenheit schwankt. Dieses Gesicht lässt sich nicht vergessen. Und wie subtil und feingliedrig Herzog sich dieses Darstellers annimmt, diesen Prozess darstellt, wie Kaspar langsam reden und schreiben lernt, wie er sich in der Welt zurechtfindet (nebenbei: eine der seltenen Gelegenheiten, den Filmkritiker Enno Patalas zu sehen - als Pfarrer). „Mein Erscheinen auf der Welt war doch ein harter Sturz“, sagt Kaspar in der ihm eigenen abgehackten Sprache. Dabei geht von diesem Film eine Gelassenheit, eine Ruhe und filmische Souveränität aus, die ohne viele Zwischenschnitte auskommt und sich ganz konzentriert auf diesen rätselhaften Menschen. Da ist Werner Herzog ein filmisches Meisterwerk gelungen. Dieser Kaspar Hauser wird unvergeßlich. So kann Film (auch) sein.
Heinz17herne
Heinz17herne
Werner Herzog fragt: „Was geschieht mit jemand, der ein unbehauenes rohes Stück Fleisch ist, ein Mensch, der noch unzivilisiert ist, ohne Sprachvermögen, ohne Begriffe, ohne alles?“ Der historische Kaspar Hauser taucht am 26. Mai 1828 im Alter von etwa 16 Jahren in Nürnberg auf. Der junge Mann, der bis dahin in völliger Isolation in einem Kellerloch eher gehaust denn gelebt hat, muss sich nun in einer ihm völlig fremden Welt zurechtfinden, muss wie ein kleines Kind gehen, sprechen, begreifen – und fühlen lernen. Vor allem letzteres hat Kaspar Hauser noch nicht geschafft, als er fünf Jahre später auf mysteriöse, bis heute ungeklärte Weise ums Leben kommt.

Bei Werner Herzog hockt eine tierisch schnaubende Kreatur in einem Kellerloch, an dessen Boden sie gekettet ist. Nur ein Spielzeugpferd bietet ein stummes Gegenüber. Versorgt von einem maskierten Unbekannten, der sie ins Gebirge schleppt, ihr in einer Höhle das Gehen beibringt und einige Brocken einer Sprache, die sie nicht versteht, die aber später auf dem Marktplatz reichen, um sich erst einmal verständlich zu machen. Zunächst wird die Kreatur in einem Zirkus ausgestellt, kommt bei einem Gefängniswärter unter und wird schließlich im Hause eines Professors aufgenommen, der ihr das Lesen und Schreiben beibringt, sie mit Logik und Religion konfrontiert und, für Kaspar das wichtigste, ihn mit der Musik vertraut macht. Als allmählich aus der Kreatur ein Mensch reift, wird ein Mordanschlag auf ihn verübt...

Wie Francois Truffaut in „Wolfsjunge“, der Geschichte eines Findelkindes, das angeblich von Wölfen ernährt und großgezogen worden ist und nur ganz allmählich in die menschliche Gesellschaft integriert werden kann, nähert sich Werner Herzog sehr behutsam dem „Kaspar Hauser“-Thema. Doch auch sein leiser, immer wieder gar stiller Film offenbart, dass eine zu rücksichtslose Eingliederung in die normierte Zivilisation geradezu zwangsläufig Deformationen hervorbringt.

Zumal wenn diese Zivilisation, wie Werner Herzog schon im Filmtitel zum Ausdruck bringt, im Inneren eine ganz andere Lebensphilosophie entwickelt als sie nach außen hin gelehrt wird. Folglich bleiben alle Erziehungsversuche bei Kaspar Stückwerk, da dieser sehr schnell die Doppelzüngigkeit etwa des Zirkusdirektors, des Rittmeisters, des Pastors, des Stadtschreibers oder der Ärzte, letztlich auch die seines scheinbar so selbstlosen Lehrmeisters, des Professors Daumer, erkennt. Aber das alles stellt Herzog nicht wie andere, zumal politisch engagierte Filmemacher seiner Generation plakativ aus, sondern lässt seinen Helden Kaspar bittere Wahrheiten eher beiläufig äußern. In Nebenbemerkungen wie dem Bekenntnis, sein Höhlendasein sei immer noch besser gewesen als vor der feinen Gesellschaft auf dem Klavier dilettieren zu müssen – wie ein dressierter Affe im Zirkus.

Herzog hat sich nur auf den ersten Blick in viele Details verloren, etwa die rührenden Sprech- und Gedächtnisübungen der beiden Dorfkinder mit Kaspar. Diese Szenen aus reinem kindlichen Herzen stehen ganz bewusst im harten Kontrast zu den ersten grobschlächtigen, freilich auch sehr wirkungsvollen Versuchen des Mannes, der Kaspar gefunden und zunächst auch in der Höhle versorgt hat, seinem „Schützling“ den aufrechten Gang beizubringen. Während Kaspar, mit einem Begleitbrief versehen, von seinem „Entdecker“ zum Marktplatz eines unbekannten Ortes geführt wird, damit man ihm dort weiterhilft, kann er sich später kaum den Nachstellungen desselben Mannes erwehren, dessen Motive am Ende unbekannt bleiben.

Wie schon in seinen anderen Filmen, erinnert sei etwa an „Aquirre, der Zorn Gottes“, bezieht Herzog in seinem sechsten die Landschaft und deren Bewohner unmittelbar ein. In bisweilen in ihrer Ausführlichkeit kaum erträglichen Sequenzen fängt die Kamera Jörg Schmidt-Reitweins die Kargheit und Schwere, die Dumpfheit, Beschränktheit und Stille von Land und Leuten ein. Gedreht wurde vor allem in Dinkelsbühl und Umgebung, weshalb „Jeder für sich...“ dort auch uraufgeführt wurde.

Neben einer ganzen Reihe hervorragender Schauspieler und Filmemacher-Kollegen Herzogs beansprucht naturgemäß Bruno S. als Kaspar die ganze Aufmerksamkeit des Zuschauers. Der 42-jährige Berliner kam bereits als Dreijähriger in eine „Anstalt“ und verbrachte zwanzig Jahre als „Kranker“ in verschiedenen geschlossenen Einrichtungen. Somit verfügt er über ausreichend intime Kenntnisse, um der Figur des Kaspar eine geradezu unheimliche Genauigkeit – und Lebendigkeit – einzuhauchen.

Was besonders auf die Szenen zutrifft, in denen Bruno S. mit weit aufgerissenen Augen und ungläubigem Erstaunen die unnatürlichen, ja unmenschlichen Verhaltensweisen seiner zivilisierten „Gönner“ über sich ergehen lässt. Bruno S. verschafft dieser Rolle andererseits auch die ganze, geradezu kreatürliche Sympathie des Kinopublikums. Was Herzogs Vorstellung von einer notwendigen Distanz zwischen Rolle und Schauspieler diametral entgegensteht. Aber das kennt der Regisseur ja von seinem „liebsten Feind“ Klaus Kinski. In Cannes gabs 1975 für Werner Herzog den Großen Preis der Jury und den Preis der Ökumenischen Jury sowie für Klaus Kinski den Fipresci-Kritikerpreis. Die Erstausstrahlung erfolgte am 8. April 1977 im ZDF.

Pitt Herrmann

Credits

Alle Credits

Regie-Assistenz

Script

Drehbuch

Kamera-Assistenz

Standfotos

Ausstattung

Schnitt-Assistenz

Ton-Assistenz

Darsteller

Produzent

Redaktion

Produktionsleitung

Aufnahmeleitung

Produktions-Assistenz

Produktions-Sekretariat

Dreharbeiten

    • 22.05.1974 - September 1974: Dinkelsbühl und Umgebung, Irland, Spanische Sahara
Länge:
2992 m, 109 min
Format:
35mm, 1:1,37
Bild/Ton:
Eastmancolor, Ton
Prüfung/Zensur:

FSK-Prüfung (DE): 13.11.1974, 46963, ab 12 Jahre / feiertagsfrei

Aufführung:

Uraufführung (DE): 01.11.1974, Dinkelsbühl, Cinemobil;
Aufführung (DE): 02.11.1974, Hof, Internationale Filmtage

Titel

  • Originaltitel (DE) Jeder für sich und Gott gegen alle
  • Weiterer Titel (DE) Kaspar Hauser - Jeder für sich und Gott gegen alle
  • Weiterer Titel (eng) The Enigma of Kaspar Hauser

Fassungen

Original

Länge:
2992 m, 109 min
Format:
35mm, 1:1,37
Bild/Ton:
Eastmancolor, Ton
Prüfung/Zensur:

FSK-Prüfung (DE): 13.11.1974, 46963, ab 12 Jahre / feiertagsfrei

Aufführung:

Uraufführung (DE): 01.11.1974, Dinkelsbühl, Cinemobil;
Aufführung (DE): 02.11.1974, Hof, Internationale Filmtage

Digitalisierte Fassung

Länge:
109 min
Format:
DCP
Bild/Ton:
Farbe, Ton
Aufführung:

Aufführung (DE): 20.02.2023, Berlin, IFF - Retrospektive

Auszeichnungen

Deutscher Filmpreis 1975
  • Filmband in Gold, Schnitt
  • Filmband in Gold, Ausstattung
  • Filmband in Silber, Bester programmfüllender Spielfilm - Gestaltung