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Verfilmung des autobiografischen Buchs "Retter in der Nacht" von Marga Spiegel. Deutschland 1943: Um der Deportation und Ermordung durch die Nazis zu entkommen, beschließt der jüdische Pferdehändler Siegmund Spiegel, mit seiner Familie aus seiner westfälischen Heimatstadt Ahlen zu fliehen. Bei verschiedenen Bauernfamilien, die damit auch ihr eigenes Leben riskieren, finden die Spiegels Unterschlupf. Es beginnt eine zermürbende Zeit in ständiger Angst vor Entdeckung – und in der Hoffnung, dass die Herrschaft der Nazis irgendwann ein Ende nehmen wird.
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25 Jahre später, 1943, Heimatfront Münsterland. Statt des „EK“ muss Menne Spiegel nun den Judenstern tragen und jederzeit den Abtransport seiner Familie in den Osten befürchten – ohne Aussicht auf Wiederkehr. Menne kann seine Gattin Marga und seine kleine Tochter Karin bei Heinrich Aschoff unterbringen. Der Hof seines Kriegskameraden beherbergt zahlreiche Fremdarbeiter, da fällt eine angeblich ausgebombte Dortmunderin nicht weiter auf – außer dass sie blond, attraktiv und gebildet ist, eigentlich viel zu fein für das Leben auf dem Lande.
Dabei bleibt jedes Gespräch, ob auf einer kurzen Eisenbahnfahrt oder im Kreis der Familie Aschoff, gefährlich, weil sich die kleine Karin schnell einmal verplappern kann, denn nur Heinrichs Frau Maria ist eingeweiht. Auch ihre Gastgeber könnte ein falsches Wort Karins um Kopf und Kragen bringen etwa bei ihren neuen Spielkameraden Emmerich und Florian Aschoff, dem Ältesten Klemens, der freilich bald an die Ostfront abkommandiert wird, und der einzigen Tochter Anni, die dem Bund Deutscher Mädchen (BDM) angehört und mit einem fanatischen Hitlerjugend-Gruppenführer befreundet ist, der geschickt ihr Misstrauen gegen die Neuankömmlinge schürt.
Menne Spiegel versucht derweil, in unmittelbarer Nähe des Aschoff-Hofes zu bleiben, um seine Lieben nicht aus den Augen zu verlieren. Er übernachtet in Scheunen oder im Freien, aber lange kann das natürlich nicht gut gehen: Zunächst gewährt ihm Hubert Pentrup Unterschlupf, obwohl dessen Frau die Geburt des Stammhalters kaum überleben dürfte. Als es zu gefährlich wird, weil besagter HJ-ler Erich, der als Hilfskraft bei Pentrop wohnt, Lunte gerochen und die Polizei alarmiert hat, sperrt ihn Heinrich Silkenböhmer (Heinrich Pachl) kurzerhand in seine Räucherkammer.
Und dann passiert es doch: Paula Wacker, die Wirtin des Gasthofes, erkennt Marga Spiegel und spricht in der ersten Verwirrung auch ihren richtigen Namen aus. Eine Szene, bei der Anni Aschoff Zeugin ist. Wird sie, die immer noch an den Endsieg der Deutschen Wehrmacht glaubt und an die Alleinschuld der Juden am Zweiten Weltkrieg, Marga und Karin an die Polizei verraten? Marga packt bereits ihre wenigen Habseligkeiten zusammen...
Es ist eine wahre Geschichte, die Marga Spiegel 1964 zu Papier gebracht hat, die im Jahr darauf in Fortsetzungen im Münsteraner Bistumsblatt „Kirche und Leben“ und 1969 unter dem Titel „Retter in der Nacht. Wie eine jüdische Familie überlebte“ auch in Buchform erschien. Und am 20. Juli 1969 dazu führte, dass die fünf an der Rettung beteiligten Familien Aschoff (Herbern), Pentrop (Nordkirchen), Sickmann (Werne), Silkenböhmer (Nordkirchen) und Südfeld (Südkirchen) von der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in das Gedächtnis der „Edlen aller Völker“ aufgenommen wurden.
Der vor allem als Dokumentarfilmer bekannte und international ausgezeichnete holländische Regisseur Ludi Boeken wollte den Stoff ursprünglich mit Laien als Dokumentation drehen, entschloss sich dann aber glücklicherweise doch zu seinem dritten Spielfilm nach „Deadlines“ und „Zug des Lebens“. Denn sein israelischer Kameramann Daniel Schneor konnte mit einem hervorragenden Ensemble drehen, in dem sich mit Anna Ehrichandwehr als Oma Aschoff, die nach dem sog. Heldentot ihres Enkels Klemens das Hitler-Porträt von der Wand der guten Stube nimmt, nur eine Laiendarstellerin befindet – aber was für eine! Gerade die oben beschriebene, stumme Szene gehört zu den Höhepunkten eines großartigen Films, der das Grauen des Holocaust konkret werden lässt, erfahrbar, erfühlbar macht.
Zwei sehr zurückgenommene Protagonisten, Armin Rohde und Veronica Ferres, tragen zu dieser „geerdeten“, glaubhaft-authentischen Geschichte ebenso bei wie Martin Horn und das überaus gelungene Kinodebüt der 1982 in Bremen geborenen Lia Hoensbroech. Die Absolventin der renommierten Otto Falckenberg-Schule legt, neben kleineren Fernsehrollen, ihren Schwerpunkt auf die Theaterbretter. In einer Schlüsselszene spielt auch Lina Beckmann eine bedeutende Rolle: Die Wirtin Paula erkennt beim Eierholen auf dem Hof Aschoff Marga Spiegel – und „bekehrt“ in einem sich wenig später daran anschließenden Gespräch die überzeugte BDM-Aktivistin Anni – durch eine ungeschönte Schilderung der Ereignisse der sog. Reichskristallnacht: „Ich habe mich geschämt, eine Deutsche zu sein.“
Die schönsten Bilder aber sind erst im Abspann zu sehen: Marga Spiegel, mit 96 Jahren hochbetagt, aber mit ganz wachen Augen, am Set, Hand in Hand mit ihrer Freundin Anni Aschoff. Es sind zugleich auch sehr wehmütige Bilder, denn Marga hat inzwischen durch Krankheit nicht nur ihren Mann, sondern auch ihre Tochter verloren. Die Free-TV-Premiere erfolgte am 26. Oktober 2012 auf Arte.
Pitt Herrmann