Winterkinder

Deutschland 2003-2005 Dokumentarfilm

Alles über meinen Opa

Jens Schanzes "Winterkinder"



Sascha Westphal, Frankfurter Rundschau, 08.12.2005

Eine Wahrheitskommission, wie sie in Südafrika nach dem Ende des Apartheid-Regimes eingesetzt wurde, hat es in Deutschland nie gegeben. Trotzdem hätte eine solche Form der Aufarbeitung nach 1945 sicher zu einer aktiveren Auseinandersetzung des Einzelnen mit seinem Anteil an der kollektiven Schuld geführt. Die Alliierten haben einen anderen Weg gewählt und auf eine Doppelstrategie gesetzt. Zum einen gab es die Nürnberger Prozesse, die nicht zuletzt als symbolischer Akt ein deutliches Zeichen für die ganze Welt markierten. Zum anderen galt es, möglichst schnell wieder zur Tagesordnung überzugehen, und so hat man sich für die "Entnazifizierung" entschieden. Diese strikt bürokratisierte Form der Aufarbeitung hat einen weitgehend reibungslosen Übergang von der Diktatur zur Demokratie ermöglicht. Allerdings hat sie auch vielen Mitläufern erlaubt, die Wahrheit über ihr Handeln zu verdrängen.

Dem Fall eines dieser Mittäter geht der Dokumentarfilmer Jens Schanze nun in "Winterkinder - Die schweigende Generation" nach. Der Kodex des Schweigens, dem sich nach 1945 viele deutsche Familien verpflichtet gefühlt haben, gilt heute noch immer. In der öffentlichen Diskussion hat so etwas wie eine gesellschaftliche Vergangenheitsbewältigung stattgefunden. Aber selbst die Debatten um Willy Brandts Warschauer Kniefall, um Gedenkstätten oder Mahnmale, über den Historikerstreit oder die Wehrmachtsausstellung konnten in der Regel private und innerfamiliäre Verdrängungsmechanismen nicht durchbrechen. So wusste der 1971 geborene Jens Schanze zwar, dass sein 1954 bei einem Autounfall ums Leben gekommener Großvater mütterlicherseits eine aktive Rolle in der NSDAP gespielt hat. Viel mehr war ihm aber über den Mann, den seine Mutter immer als "unseren guten Vater" bezeichnet hat, nicht bekannt.

Jahrzehntelang hat Schanzes Mutter jede familiäre Diskussion über die Aktivitäten ihres Vaters im Dritten Reich unterdrückt. Er war der strenge, aber liebevolle Vater und Bergbauingenieur, der in den 1940er Jahren ein Bergwerk in der niederschlesischen Kleinstadt Neurode geleitet hatte. Zwischen seiner Funktion als Schulungsleiter der NSDAP und den Verbrechen der Nationalsozialisten, die nur wenige Kilometer von Neurode entfernt in dem Konzentrationslager Groß-Rosen verübt wurden, hat Antonie Schanze nie eine Verbindung sehen wollen. Erst seit sie 1999 für ein paar Tage in ihre alte, nun zu Polen gehörende Heimat zurückgekehrt ist und dabei eines der Außenlager von Groß-Rosen besucht hat, sind ihr Zweifel an dem idealisierten Bild gekommen, an dem sie so lange festgehalten hat.

Für "Winterkinder" ist Antonie Schanze mit ihrem Ehemann noch einmal in die alte Heimat gefahren. Doch auch diese Reise, bei der ihr Sohn und sein Filmteam sie begleitet haben, gleicht eher einer Flucht vor der Wirklichkeit als einem Trip in die Vergangenheit. Jens Schanze konfrontiert seine Mutter zwar mit den Ergebnissen seiner Nachforschungen in historischen Archiven und den Briefen, die der Großvater seinerzeit aus Niederschlesien an seine Mutter geschickt hat. Aber auch diese Dokumente prallen an Antonie Schanzes selektiven Erinnerungen ab. Sie bricht zwar nun endlich mit dem Schweigen, doch der Wahrheit über ihren Vater verweigert sie sich weiterhin.

"Winterkinder" wurde vorgeworfen, dass Jens Schanze in seinen Gesprächen mit den Eltern zu wenig nachhake, dass er nur die Geschichte einer Verdrängung dokumentiere und damit im Privaten verharre. Tatsächlich verzichtet Schanze konsequent auf jede Verallgemeinerung. Er erzählt die Geschichte seines Großvaters und seiner Mutter, und die ist vielleicht in vielerlei Hinsicht typisch, trotzdem bleibt sie einzigartig. Sein Film ist eine intime Innenansicht einer Familie und damit erst einmal eher ein privates als ein politisches Dokument. Gerade daraus erwächst aber seine gesellschaftliche Dimension.

Je länger Jens Schanze seine Mutter mit der Kamera beobachtet, desto deutlicher werden die Grenzen filmischer Vergangenheitsbewältigung. Zu Beginn des Projekts wirkt Jens Schanzes Mutter verunsichert und eingeschüchtert. Sie weiß nicht, wie sie auf die Kamera und das Filmteam reagieren soll, und so wartet man regelrecht auf den Augenblick, in dem diese Unsicherheit ihr den Weg frei macht für eine neue Sicht auf die Vergangenheit. Doch dieser Moment bleibt aus. Stattdessen wird die Kamera im Lauf des Projekts zur Verbündeten der Mutter. Sie gewöhnt sich an ihre Präsenz und beginnt sogar, sich vor der Kamera zu inszenieren. Bisher konnte sie sich nur hinter ihrem Schweigen verstecken, nun verbirgt sie ihre wahren Gefühle hinter einer Maske, die sie für die Kamera und gegenüber der Familie aufsetzt.

© Sascha Westphal

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