Schatten der Engel

BR Deutschland Schweiz 1975/1976 Spielfilm

Inhalt

Der Schweizer Daniel Schmid verfasste das Drehbuch wortgetreu nach Fassbinders umstrittenem Bühnenstück "Der Müll, die Stadt und der Tod", das von Suhrkamp zurückgezogen und lange nicht aufgeführt wurde. Fassbinder hatte es für das Frankfurter TAT geschrieben, anlässlich der Auseinandersetzungen um Stadtsanierung und Korruption in der Finanzmetropole. Der Versuch, darin antisemitische Stereotypen zu analysieren, wurde ihm selbst als Antisemitismus ausgelegt. Ein Immobilienhai, der sich selbst nur "reicher Jude" nennt, schlägt Kapital aus dem Filz zwischen Behörden und Bauspekulanten. Er trifft sich regelmäßig mit der schönen und sensiblen Prostituierten Lily Brest, Tochter eines alten Nazis, den er für schuldig am Tod seiner Eltern hält. Als ihn Lily in verzweifelter Todessehnsucht darum bittet, sie zu töten, erwürgt er sie. Da der Polizeipräsident ihn deckt, wird statt seiner Lilys Zuhälter Raoul als Täter verhaftet.

 

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Heinz17herne
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Fassbinders Theaterstück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ nach dem Roman „Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond“ von Gerhard Zwerenz löste einen der größten Theaterskandale der bundesdeutschen Nachkriegszeit aus. Nachdem 1975 Fassbinders Versuch, sein Werk als Intendant am Frankfurter Theater am Turm (TAT) uraufzuführen, gescheitert war, unternahm der frühere FAZ-Feuilletonchef Günther Rühle als Intendant des Schauspiels Frankfurt zehn Jahre später einen zweiten Versuch. Besonders die Jüdische Gemeinde der Bankenmetropole, an ihrer Spitze mit Ignatz Bubis der spätere Vorsitzende des Zentralrats der Juden im wiedervereinten Deutschland, setzte sich mit „Sit ins“ und anderen Aktionsformen außerparlamentarischer Opposition erfolgreich dagegen zur Wehr. Den offiziösen Vertretern der Juden in Deutschland war es gelungen, Fassbinder mit dem Vorwurf des „Linksfaschismus“ in die antisemitische Ecke zu drängen.

Am Schauspielhaus Bochum kam es während der Intendanz Peter Zadeks am 5. Dezember 1976 im Rahmen eines „BO Weekend“-Spektakels zu einer u.a. mit Fassbinder, Ingrid Caven, Peer Raben, Werner Eichhorn und Hermann Lause hochkarätig besetzten Stücklesung. An der anschließenden Diskussion unter der Leitung von Volker Canaris nahmen u.a. Jean Amery, Erich Fried, Gerhard Zwerenz, Ingrid Caven und Rainer Werner Fassbinder teil. Was die Theatergeschichtsschreibung unterschlagen hat: Bochum war auch der Austragungsort der szenischen Uraufführung am 22. Januar 1979, allerdings nicht im imposanten Theaterschiff an der Königsallee, sondern in der Alten Mensa der Ruhr-Universität. Günther Wille, Leiter der dem Musischen Zentrum angeschlossenen RUB-Studiobühne, inszenierte „Der Müll, die Stadt und der Tod“ u.a. mit Manuela Brinkmann als Prostituierte Roma B. und Uwe Riedel als Frankfurter Grund-und-Boden-Spekulant („reicher Jude“). Die Fassbinder Foundation wertet dagegen die presseöffentliche Vorstellung der Inszenierung Dietrich Hilsdorfs am 4. November 1985 im Schauspiel Frankfurt als Uraufführung.

Das Medium Film war schneller. Nach dem Weggang Fassbinders vom TAT hatte er versucht, sein Stück selbst zu verfilmen, scheiterte aber an der Finanzierung: Weder der angefragte Westdeutsche Rundfunk noch die Filmförderunganstalt sahen sich in der Lage, ein solches heißes Eisen zu unterstützen. So konnte der Schweizer Film- und Opernregisseur Daniel Schmid die Gelegenheit nutzen, mit „Schatten der Engel“ seinen ersten Film nach einem fremden Drehbuch zu drehen: mit Fassbinder hatte er 1966 die Aufnahmeprüfung zur Berliner dffb-Filmakademie gemacht – und im Gegensatz zu RWF bestanden. Angesichts der öffentlichen Skandalisierung der Vorlage ist es schon erstaunlich, dass die beinahe buchstabengetreue Leinwandadaption ohne mediales Aufsehen ab 3. September 1976 störungsfrei in den deutschen Kinos lief. Schmid hievt freilich das Schauspiel um einen jüdischen Baulöwen mit der stilisierten Kamera Renato Bertas und der abgehoben Kunstsprache Fassbinders auf eine neue, realitätsenthoben-surrealistische Ebene. Schiffssirenen zu Beginn suggerieren einen norddeutschen Ort der Handlung, erst das Autokennzeichen des dicken amerikanischen Straßenkreuzers, in dem sich der Baulöwe durch die Straßen kutschieren lässt, verweist auf Wien, was dem Sujet offenbar einiges an politisch-moralischer Spannung genommen hat.

Lily Brest ist die ausgesprochen aparte Hure ihres einfach gestrickten Brutalo-Machos von Zuhälter Raoul. Der nur eine Ehre kennt: mit dem kargen Lohn seiner „Pferdchen“ auf der Rennbahn zu spekulieren und im Kreis Gleichgesinnter zu renommieren. Ein armer kleiner Wicht, ein gefühlskalter Zocker einfachsten Zuschnitts. Lily ist von ihrem Vater, Herrn Müller, der sich als Travestie-Sänger in einer schmuddeligen Nachtbar verdingt, schon früh sexuell missbraucht worden. Zusammen mit Emma versieht Lily ihren Dienst in eiskalten, zugigen Hauseingängen und Straßenunterführungen. Die Sprache der Huren ist, ein geradezu Brechtscher Verfremdungseffekt, der Hochsprache und dem Versmaß unserer Klassiker entlehnt. Klaus Löwitsch gibt den reichen Juden in Entsprechung des Shakespearschen Shylock in der Interpretation durch den Regisseur Peter Zadek und den Schauspieler Gert Voss am Wiener Burgtheater nicht als orthodoxen Glaubenskämpfer, sondern ganz säkularisiert. Ein kalter, berechnender, über Leichen gehender Geschäftsmann, der mit Immobilienspekulationen sein Geld macht und mit Hilfe der örtlichen Administration ganze Stadtviertel abreißen lässt, um den Baugrund mit opulenten Neubauten gewinnbringend weiterzuveräußern.

Löwitsch ist ein Baulöwe, aber auch ein einsamer Mann, der in der Hure Lily eine ideale Zuhörerin gefunden hat für seine philosophischen Ergüsse über Architektur und Stadtlandschaft, über Leben und Tod. Auch diese in einer abgehobenen, gänzlich theatralischen Sprache – surreal. Seine Geschäfte gehen zu gut, ahnt der reiche Jude, das schreit nach Strafe. Weshalb seine grundsätzlichen Gedanken in eine Art katholisch-christliche Beichte münden – nicht weniger surreal. Als Lily zur ständigen Begleiterin des Juden und mit Reichtümern überhäuft wird, verzweifelt Raoul und zieht zu einem homosexuellen Freund. Als er in einer Schwulenbar zusammengeschlagen wird, schwenkt er auf die Linie von Herrn Müller ein: der Jude trinkt nur unser Blut, die Nazis haben vergessen, ihn zu vergasen. Was ist das für ein Staat, der zulässt, was geschieht? Raoul und Herr Müller sind sich einig: der Faschismus wird siegen!

Antisemitismus bei Fassbinder? Gerade die Verkörperung des reichen Juden durch Klaus Löwitsch ist ein Garant dafür, dass solche Anschuldigungen ins Leere laufen. Sein Immobilienhai ist in der Tat ein Jude, aber einer, der keinem Vorurteil, keinem Klischee entspricht. Er ist ein Kapitalist und wie jeder Kapitalist ein Ausbeuter. Lilys Mutter Luise ist an den Rollstuhl gefesselt und hasst ihre schöne, lebensfrohe Tochter wie ihr körperliches Gebrechen. Sie akzeptiert Lilys Beziehung zum Juden ebensowenig wie deren bisheriges Umfeld. Aber für die Zuhälter und die anderen Prostituierten ist Lily nun eine, die es geschafft hat, die auf der anderen Seite steht. Was Lily selbst anders sieht. Sie erträgt den kalten Zyniker nicht länger, betet verzweifelt in der Kirche, die Daniel Schmid opulent in ein einziges Kerzenlichtermeer verwandelt, bittet um den Tod – und der Jude stranguliert sie. Lustmord, jüdischer? Kann ich nicht erkennen. Eher Ausdruck unumschränkter Macht eines reichen Kapitalisten. Der weder moralische Grenzen noch staatliche Gewalt zu fürchten hat. Polizeichef Müller II und Thomas, die Vertreter des Staates, schützen den Täter und lassen stattdessen den Kleiner Prinz genannten Adlatus und Fahrer hinrichten: „Mir ist grad einer aus dem Fenster gehüpft“. Der Fassbindersche „Zwerg“, Entlastungszeuge für den reichen Juden, ist bei Schmid mit Jean-Claude Dreyfuss ein großgewachsener, schlanker, athletischer junger Mann mit kahlgeschorenem Schädel und fremdländischem Akzent. Warum auch immer.

Rainer Werner Fassbinder am 5. Dezember 1976 im Schauspielhaus Bochum: „Dieses Stück war einer der Gründe, warum wir das TAT verlassen mussten. Schmid hat die expressionistische Sprache des Stücks interessiert, nicht die Frankfurter Situation. Er hat mit der Verfilmung eine Kunstwelt geschaffen, die auf die Frankfurter Wirklichkeit allerdings Rückbezüge schaffen kann. Das Stück ist ohne mein Wissen im unfertigen Zustand gedruckt worden und darf ohne mich nicht aufgeführt werden. Die TAT-Inszenierung ist ja auch geplatzt. Die Meinungen, die im Stück geäußert wurden, und das ist doch deutlich erkennbar, sind nicht die meinigen, sind keine Aussagen des Stücks als solches.“

Pitt Herrmann

Credits

Alle Credits

Länge:
2768 m, 101 min
Format:
35mm, 1:1,66
Bild/Ton:
Eastmancolor, Ton
Prüfung/Zensur:

FSK-Prüfung (DE): 10.08.1976, 48445, ab 18 Jahre / feiertagsfrei

Aufführung:

Uraufführung (CH): 31.01.1976, Solothurn, Filmtage

Titel

  • Originaltitel (DE) Schatten der Engel
  • Weiterer Titel (ENG) Shadows of the Angels

Fassungen

Original

Länge:
2768 m, 101 min
Format:
35mm, 1:1,66
Bild/Ton:
Eastmancolor, Ton
Prüfung/Zensur:

FSK-Prüfung (DE): 10.08.1976, 48445, ab 18 Jahre / feiertagsfrei

Aufführung:

Uraufführung (CH): 31.01.1976, Solothurn, Filmtage

Prüffassung

Länge:
2884 m, 105 min