Der Aufenthalt

DDR 1982/1983 Spielfilm

Eine "unerhörte Begebenheit". "Der Aufenthalt"


Günter Agde, Filmspiegel, Berlin/DDR, Nr. 3, 1983


Da gerät ein ganz Junger in eine
schlimme Lage: er wird als Mörder verdächtigt, außerdem als einer von der SS. Ein knapp 20jähriger Deutscher im zerstörten Polen. Ist er unschuldig? Die Tat, der er beschuldigt und deretwegen er wie ein "bedeutender Mensch" behandelt wird, hat Mark Niebuhr nicht begangen. Jedoch: er hätte sie begehen können, denn er gehört zu jenen vielen Deutschen, die der Faschismus irregeleitet, manipuliert, verführt und in einen schrecklichen Krieg gegen unschuldige Völker gezogen hatte. Die harte Abrechnung muß alle treffen, die da mitgemacht haben. Dabei wird die individuelle tatsächliche Schuld – historisch gesehen – zweitrangig. Hier setzt die dialektische Gedankenarbeit über Verantwortung (des Mitmachers) und Zuständigkeit (der Nachfolgenden) an, die Wolfgang Kohlhaase als einen Antrieb für die Arbeit am Film und als eine Komponente seiner Wirkung benannte. Kohlhaase, einer unserer besten Drehbuchautoren, hat beherzt die "unerhörte Begebenheit" um Mark, die Novelle, wie er es nannte, aus Hermann Kants reflexionsreichem Roman herausgelöst und sie mit Regisseur Frank Beyer zu einem eigenständigen Filmkunstwerk umgeformt. Dies scheint mir die eleganteste Lösung bei Literaturverfilmungen zu sein: der Roman behält, der Film erhält sein Eigenleben, seinen Eigenwert. Beide existieren, wirken selbständig. Der Film will nicht Literatur auf die Leinwand bringen, er will Film sein und mit seinen Mitteln eine Geschichte erzählen, die der Roman mit seinen, d. h. ganz anderen Mitteln erzählt. Ein bedeutender Film ist entstanden. Mark Niebuhrs Erlebnisse werden sehr dicht, fast atemberaubend erzählt – ohne Pause, ohne Wiederholung, ohne Leer- oder Anschlußphasen. Jeder Blickwechsel, jeder Gang, jede Verrichtung hat jene innere, tiefere Dimension, Bedeutung, die unabdingbar sind und vom Handwerk zur Kunst hinüberführen. Das steigert die Spannung, die man empfindet, ob man den Ausgang der Geschichte Niebuhrs nun kennt oder nicht.

Hier setzt freilich auch meine Unsicherheit ein, ob der Film tatsächlich viele Jugendliche erreicht, aber vor allem mein tiefer Wunsch, daß es so sein möge. Denn die Masse unserer Kinozuschauer ist dem Alter nach diesem Mark sehr nahe. Auch Marks "Gegenspielern" – dem polnischen Leutnant (Andrzej Pieczyński), dem SS-Hauptsturmführer (Matthias Günther), dem Kraftfahrer Fenske (Hans-Uwe Bauer), der das (zu Kant hinzuerfundene) Gegenstück Marks ist: er behauptet eine Verwechslung, die dann gar keine ist. Alle Darsteller sind glänzend ausgesucht und geführt. Frank Beyer hat wieder einmal bewiesen, welch großes Talent er – bei einem guten Buch – zur Arbeit mit Schauspielern im Film hat. Man sehe, wie er Marks Eintritt in die deutsche Zelle arrangiert und fotografieren läßt. Man sehe, was er diesen jungen, beinahe zarten, ausdrucksstarken Sylvester Groth an Blicken, Haltungen, Spiel mit dem Requisit abfordert oder – ganz anderes – wie er einen der bedeutendsten Schauspieler Polens, Roman Wilhelmi, als Aufseher der Deutschen auftreten/abgehen läßt. Solche ausdrucksvolle Wahrhaftigkeit, die noch aus den Stimmungen der Szenen entgegenschimmert, wäre ganz unmöglich ohne die ausgezeichnete Arbeit des Szenographen Alfred Hirschmeier und des Kameramanns Eberhard Geick. Sorgfalt in der Ausführung ihrer Arbeit versteht sich bei ihnen von selbst, aber wie sie ihre Kunst zur Erzählweise Beyers hinzufügen, sich einordnen und damit das Ganze hochheben, verdient große Anerkennung.

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