Die flambierte Frau

BR Deutschland 1982/1983 Spielfilm

Deutschland privat

Kühle Bilder aus dem bürgerlichen Leben



Hans-Christoph Blumenberg, Die Zeit, 17.06.1983

Ein heimlicher Blick. Neugier, Zaudern, bald Lust, schließlich Besitzergreifung. Mit den Augen einer Frau durchstöbert die Kamera eine fremde Wohnung. Die Reinheit des Herzens kennt keine Diskretion. Wir folgen einer weichen, schleichenden Bewegung, von Raum zu Raum, vorbei an Möbeln und Tapeten, die den Ästheten schaudern machen. An einer Wand hängt ein schlechter Druck von Caspar David Friedrichs Gemälde "Das Eismeer (Die gescheiterte "Hoffnung")". Der verbotene Blick in die stille Gruft kündigt ein Drama an. Am Ende des Korridors wartet ein anderes Lächeln: tödlich.

Der sanfte Horror dieser Szene findet sich, zum Verwechseln ähnlich, in drei Filmen von Robert Van Ackeren: "Harlis", "Das andere Lächeln", "Die Reinheit des Herzens". Beim ersten Mal ist es eine genußsüchtige Tänzerin, die die Wohnung ihres neuen Liebhabers inspiziert. Da sah das Kino des Robert Van Ackeren noch sehr bunt, sehr laut, sehr effektvoll aus. Beim zweiten Mal ist es eine altjüngferliche Apothekerin, die sich in der kleinbürgerlichen Behausung ihrer kranken Freundin umschaut, deren Pflege (und allmählich auch deren Mann, deren Funktion, deren Identität) sie übernimmt. Beim dritten Mal ist es die von einem jähen Trieb erfaßte Literaten-Gattin aus gehobenem Wohlstands-Milieu, die mit einer Mischung aus Abscheu .und Faszination die düstere Bude eines wortkargen Lederkerls und Bücherklaus durchstreift.

Nichts passiert in diesen Augenblicken eines halb ängstlichen, halb wollüstigen Schweifens in fremdem Terrain (das bald nicht mehr fremd sein wird), aber den Zuschauer erfaßt alsbald ein sachtes Entsetzen. In diesen Räumen nisten ungelebte Leidenschaften.

Caspar David Friedrichs berühmtes Bild von der erfrorenen Hoffnung schmückt zwar nur das eine Zimmer (im "Anderen Lächeln"), aber es könnte ein Leitmotiv sein für die Kunst Van Ackerens. Sie ist dem überscharfen Realismus Erich von Stroheims, manchmal auch dem distanzierten melodramatischen Gestus Fassbinders mehr verbunden als dem flachen naturalistischen Kino, welches "Wirklichkeit" allenfalls zu imitieren sucht. Van Ackerens Blick ist so stilisiert wie der von Friedrich vor einhundertfünfzig Jahren.


Und weil dieser Blick auf Verhältnisse und Figuren fällt, die selber hinter Posen und Stilisierungen Zuflucht suchen, wird er erkennbar als ein äußerst realistischer. Er hält, weder der eines Romantikers noch der eines Melodramatikers, auf Distanz. Ins Tal der toten Augen hat er noch nie gepaßt.

Als der "junge deutsche Film" noch jung war, Mitte der sechziger Jahre, war Robert Van Ackeren, 1946 als Sohn holländischer Eltern in Berlin geboren, schon dabei. Seit 1964 drehte er Experimentalfilme für das Literarische Colloquium, früh machte er sich einen Namen als Kameramann. Er arbeitete mit Roland Klick ("Bübchen"), mit Thomas Struck ("Hans im Glück"), Klaus Lemke ("Brandstifter ), Rosa von Praunheim ("Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt") und Werner Schroeter ("Eika Katappa"). 1970 entstand sein erster Spielfilm ("Blondie"s Number One"), drei Jahre später gelang ihm mit dem ironischen Schmachtfetzen "Harlis" ein großer Erfolg beim Publikum und bei der Kritik.

Dem "Durchbruch" folgte indessen rasch der Einbruch. Weder "Der letzte Schrei" (1975), eine im grellen Pop-Stil von "Harlis" inszenierte Groteske mit internationaler Star-Besetzung (Delphine Seyrig, Barry Foster), noch die manierierte Heinrich-Mann-Adaption "Belcanto" (nach dem Roman "Empfang bei der Welt") fanden rechte Gunst bei Zuschauern und Rezensenten. Spätestens 1977 schien Robert Van Ackeren ein Mann von gestern zu sein, eines der vielen begabten Opfer der inzwischen längst vergangenen Sturm und Drang-Zeit des deutschen Films, der es sich jetzt lieber mit risikolosen Klassiker-Verfilmungen gemütlich machte.

Van Ackeren sah aus wie ein Stilist ohne Substanz, ein Mann, der Filme machte wie die Südländer manchmal Fußball spielen: zum Sterben schön, verliebt in den Einfall, den raffinierten Trick, das gewagte Geplänkel, aber am Ende doch ohne einen inneren Zusammenhang zwischen den einzelnen Teilen. Seit "Harlis" habe er zwar sein Thema gefunden – die abgründige Trivialität des bürgerlichen Daseins, die Nähe von banalstem Alltag und absurdesten Zwangsvorstellungen – aber er schien sich damit begnügen zu wollen, das Sujet apart zu umschmeicheln.

Sechs Jahre und drei Filme später (oder vier, wenn man "Deutschland privat" mitrechnet, eine Zusammenstellung authentischer Super-Acht-Filme aus kleinbürgerlichem Privatbesitz) sieht die Situation für Robert Van Ackeren gänzlich anders aus. In Cannes wurde im Mai 1983 sein neuer Film "Die flambierte Frau" einhellig bejubelt, von einem französischen Kritiker gar als Werk "eines Chabrol von jenseits des Rheins" gefeiert. Schon am "Anderen Lächeln", das 1978 herauskam, rühmte Peter W. Jansen "die geradezu stoische Sorgfalt der Inszenierung, die an Chabrol in seinen besseren Zeiten und zuweilen an die mise-en-scene von Losey erinnert".


Und dazwischen entstand 1980 "Die Reinheit des Herzens", der zweite Teil einer (nie beabsichtigten) Trilogie aus dem Leben der Marionetten, der wegen "einer exzessiven Darstellung von Gewalt, die das familiäre Zusammenleben von Intimpartnern in negativer Weise zeigt", aus dem ARD-Gemeinschaftsprogramm flog und nur in den Dritten Programmen (natürlich nicht in Bayern) gezeigt werden durfte: eine Auszeichnung von fragwürdigem Reiz, die fast ausschließlich wichtigen und ungewöhnlichen Filmen zuteil wird. Es fand sich denn auch keine einzige Fernsehanstalt mehr, die sich an der Produktion der "Flambierten Frau" (deren Entstehungsgeschichte der Regisseur "eine Spur zu abwechslungsreich" findet) beteiligen mochte.

Dabei gibt es in der "Reinheit des Herzens", anders als in den allseits so beliebten amerikanischen Krimi-Serien, nur einen einzigen Todesfall. Die Ehefrau, ihres Seitensprungs aus dem komfortabel möblierten Penthouse überdrüssig, entledigt sich ihres lästig gewordenen Liebhabers durch einen Stich mit just jenem Brieföffner, den ihr Mann zuvor verschluckt hatte. Da fand sie noch: "Er ist sogar zu feige, sich umzubringen", aber schließlich siegt auch in ihr der Wunsch nach stabilen Verhältnissen. So gilt es, vom herbeigesehnten freien Leben wieder zu scheiden. Und das geht eben nur auf gewaltsame Weise.

Einen "Film über die bürgerliche Neugier" hat Robert Van Ackeren "Die Reinheit des Herzens" genannt. Dasselbe gilt auch für "Die flambierte Frau". In der ersten Sequenz verläßt Eva, die immer noch ein wenig vor sich hin studiert, ihren sehr gebildeten, leidlich wohlhabenden, durchschnittlich langweiligen Freund. Man hält auf Formen in diesen Kreisen, man liest die richtigen Bücher, man umgibt sich mit gepflegtem Altbau-Chic, man trifft sich bei Vernissagen, und zum Dessert gibt es selbstverständlich "frische Lychees, direkt vom Markt".

Eva kennt sich aus mit den neuesten Moden des Westens. Sie begibt sich auf den Strich, natürlich auf den alterfeinsten. In Chris, der seine Haut als "Dressman" zu Markte trägt, findet sie den idealen Partner: ein neues Paar. Tagsüber bedienen Eva und Chris in ihrer fabelhaften Maisonette-Wohnung die Kunden, sie als Domina in schwarzem Leder, er, stets verbindlich und anpassungsfähig, nicht nur reifere Damen, sondern auch gepflegte Herren aus der Kultur-Szene. Und am Abend wird das "private" Glück zu zweit gepflegt.


Mit Chabrol verbindet Van Ackeren eine Neigung zu trügerischen Idyllen. "Das andere Lächeln" und "Die Reinheit des Herzens" beginnen mit Bildern trauten Familienglücks im Grünen, die wirken wie die Hochglanz-Prospekte eines Lebensversicherungskonzerns: beängstigend. Auch in der "flambierten Frau" erweist sich das kleine Glück als große Selbst-Täuschung. Die Trennung der falschen Intimität (der käuflichen) von der richtigen (gefühlten) funktioniert nicht. Während Eva einen gewissen Genuß an ihrer neuen Arbeit entwickelt, strebt Chris einer "normalen", bürgerlichen Existenz zu. Im mondänen Milieu der Luxus-Prostitution wiederholen sich die allerbanalsten Verkehrsformen üblicher "Zweierbeziehungen". Zum ersten Mal in Robert Van Ackerens geschlossener Gesellschaft kommt eine Figur mit einem heilsamen Schrecken davon. Die Frau brennt zwar (das Flambieren im Titel ist durchaus wörtlich zu nehmen), aber am Ende lacht sie. Eva ist stärker geworden.

Hätte Van Ackeren diese Geschichte vor zehn Jahren inszeniert, es wäre eine schrille, kabarettistische Farce geworden. Der böse Blick von damals ist zwar geblieben, aber er ist viel schärfer, viel genauer geworden. Aus einer Entfernung, die auch die Kamera einnimmt, die diskreten Abstand hält von den Leidenschaften der Figuren, entfaltet Van Ackeren ein subtiles Spiel mit Gefühlen. Je heftiger es auf der Leinwand zugeht, desto lakonischer wird der Stil. Die Erniedrigungs-Rituale, die Eva mit ihren Klienten veranstaltet, sehen nicht aus wie Veranstaltungen der Lust, sondern wie zoologische Experimente. Und schon in der ersten Sequenz ist es nicht der routiniert aggressive Dialog zwischen Eva und ihrem Freund, der die Trennung ankündigt, sondern eine lange Kamerafahrt durch die sterile Wohnung.


Leidenschaften frieren ein zu Posen. Man mag das Stilisierung nennen, aber wo jede Leidenschaft auch nur eine beliebige, austauschbare Haltung ist, kommt Van Ackeren mit der kühlen Künstlichkeit seines Stils der wahren Natur gegenwärtiger "Beziehungs"-Krisen näher als jene mit Gefühls-Kitsch vollgestopften filmischen Lore-Romane, die man bei uns gern für kritisches Kino hält. Was er über sein großes Vorbild Erich von Stroheim (dem er "Die Reinheit des Herzens" gewidmet hat) sagt, trifft auch seine eigenen Filme: "Er ist der einzige Regisseur für mich, der eine überscharfe Realitätssicht hat. Seine Filme haben scharfe Konturen, halten Balance zwischen melodramatischen und komödiantischen Momenten. Seine Filme sind sophisticated, sie schillern ..."

Und wie sie schillern! Die erhabenen Gesten des Melodrams vermählen sich bei Van Ackeren mit den pragmatischen Niederungen der Betriebswirtschaft: einer Disziplin, die Chris fünf Semester lang betrieben hatte, bevor er sich zu einer profitableren Karriere als Gigolo entschloß. Mathieu Carriere, endlich wieder in einem deutschen Film, hält diese Figur in einer reizvollen Schwebe. Zur Melancholie einer alternden männlichen Kameliendame gesellt sich auf tragikomische Weise die Akribie eines Bilanzbuchhalters. Wie in der "Reinheit des Herzens" sind die Hauptfiguren mondän und mittelmäßig zugleich. Für seine Zukunft richtet, sich Chris, unterstützt von seinem kunstsinnigen Lieblings-Kunden (Hanns Zischler), ein Galerie-Restaurant mit "Nouvelle Cuisine" ein. In dem könnte man sich dann leicht das Personal von Botho Strauß vorstellen.

Es sind Frauen, die in den Filmen von Robert Van Ackeren Experimente mit scheinbar anderen Lebensformen anzetteln. Im deutschen Film, dessen beste Regisseure (zumal Wim Wenders und Werner Herzog) am liebsten Konflikte unter Männern inszenieren, ist allein schon dies bemerkenswert. Nur Fassbinder, mit dem ihn eine Freundschaft verband (Van Ackeren hat einen Kurzauftritt in "Querelle"), wagte sich, von Petra von Kant über Maria Braun bis Veronika Voss, oft an Frauengeschichten.


Seit dem "Anderen Lächeln" schien Van Ackeren in Elisabeth Trissenaar seine ideale Interpretin gefunden zu haben; halb Persil-Hausfrau, halb griechische Tragödin, Medea bei Karstadt, voll von überlebensgroßen Sehnsüchten, aber doch auch die Vorzüge und Sicherheiten der bürgerlichen Existenz im Sinn. Im "Anderen Lächeln" spielt die Trissenaar den herzlichsten aller Vampire: eine Frau, die durch ihre schiere Fürsorglichkeit eine Familie zerstört. In der "Reinheit des Herzens", Van Ackerens zweitem Horrorfilm aus dem Innenleben der Bourgeoisie, kehrt sie als eine zeitgenössische Madame Bovary zurück. Sie spielt einen gebremsten Taumel, wie eine Frau, die Flaubert und Fontane gelesen hat, die neugierig ist auf den süßen Wahn, sich aber dann gerade noch rechtzeitig erinnert, wie schlimm das alles damals ausgegangen ist. Gefühle gibt es in den Filmen von Van Ackeren immer nur aus zweiter Hand. Die Figuren streifen sie über wie eine kostbare neue Seidenbluse und fangen später an sich zu wundern, wenn das schöne Gewand in Fetzen fällt. Der Ironiker Van Ackeren steht in den Kulissen und registriert beharrlich die Verwirrungen und Verletzungen.

Nun hat die Trissenaar in der "Flambierten Frau" eine jüngere, stärkere Schwester bekommen: Gudrun Landgrebe als Eva, noch eine dieser neugierigen Bürgerinnen, die auszieht, das Fürchten zu verlernen. Aber weniger als die Figuren, die Elisabeth Trissenaar für Van Ackeren spielte, ist sie eine Horror-Gestalt. Die Scheu, mit der sie sich anfangs im teuren Freudenhaus (mit Salon, Swimmingpool und viel Plüsch) bewegt, verwandelt sich bald in eine klare Einsicht in die Natur des Gewerbes. Eva wird eine Professionelle. Sie beherrscht ihr Handwerk mit der spröden Selbstverständlichkeit einer Chefsekretärin. Sie ist so kalt, wie der Moment es erfordert. Und manchmal sieht man ihr auch an, daß der Beruf ihr gefällt. Sie ist eine Schauspielerin. Nach dem Ende der Vorstellung verabschiedet sie die Klienten mit gelassener Höflichkeit. Nur mit Chris, da soll, da muß alles ganz anders sein. Die Herrin darf das Schmusekätzchen sein.


Die Schauspielerin Gudrun Landgrebe, gerade noch eine Venus aus Marmor, zeigt auf wirklich atemberaubende, manchmal sehr komische Weise, ein anderes Gesicht, wird zur verliebten, auch mal schmollenden Hausfrau. Die älteste aller Männerphantasien, die Vorstellung von der Frau als Mutter und Hure zugleich, spielt sie so genau wie lange keine Schauspielerin im Kino mehr. Wenn es eine Gerechtigkeit auf der Welt gäbe (und eine Filmindustrie in Deutschland), müßte Gudrun Landgrebe über Nacht ein Star geworden sein.

Und Robert Van Ackeren, über den Mathieu Carriere (mit dem er Probleme hatte) schrieb, daß "Deine Augen so lieb schauen wie die vom frühen Chaplin, Dein Bart so weich ist wie der vom mittleren Coppola und Deine Lederhose sogar noch schwärzer als die vom späten Fassbinder"? Ein Liebling der Gremien (die er allerdings für die allgemeine Langeweile im deutschen Film weniger verantwortlich macht als die viel zu mut- und phantasielosen Regisseure) ist er nie gewesen. Fast alle seine Filme entstanden unter erheblichen Schwierigkeiten. Das könnte sich jetzt, nach einem internationalen Erfolg der "Flambierten Frau", endlich ändern. Für sein nächstes Projekt braucht er viel Geld; die Adaption des Romans "Die Tigerin" von Walter Serner, dem Dadaisten. Da entschließen sich zwei Leute, die es eigentlich besser wissen, eine Liebe zu versuchen. Ein falsches Gefühl. Eine Katastrophe. Das ist das Kino des Robert Van Ackeren.

© Hans-Christoph Blumenberg

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