Stammheim

BR Deutschland 1985/1986 Spielfilm

Stammheim



Detlef Kühn, epd Film, Nr. 2, Februar 1986

Hauffs Credo ist es, unverfälschte Wirklichkeit zu zeigen. Dieser Anspruch mag ihn bewogen haben, den Prozess gegen Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe so authentisch wie möglich, gleichsam als Dokumentation auf die Leinwand zu bringen. Drehbuchautor Stefan Aust hat auf sein Buch "Der Baader Meinhof Komplex" zurückgegriffen und für "Stammheim" politische Erklärungen und Gefühlsausbrüche der Angeklagten, Fragen und Zurechtweisungen der Richter, Anträge der Verteidiger und Ausflüchte der Bundesanwaltschaft ausgewählt und thematisch – nicht chronologisch – geordnet.

Doch anders etwa als Eberhard Fechner in seiner meisterhaften Majdanek- Dokumentation gelingt es Hauff und Aust nicht, das sichtbar und begreifbar zu machen, was in den auf beiden Seiten agierenden Menschen und in den Verhältnissen ihrer Zeit begründet liegt, was Ursache von Denken und Handeln ist. Um die Annahme Austs zu bestätigen, "dass alles, was es über Terrorismus zu sagen gibt, in und durch diesen Film direkt oder indirekt gesagt worden ist", hätte es einer stärker interpretierenden Gestaltung des Stoffes bedurft.

Die Richter in "Stammheim" haben die Angeklagten der Rote Armee Fraktion als normale Kriminelle behandelt und ihre politischen Beweggründe weder hören noch für Urteilsfindung und Strafzumessung berücksichtigen wollen. Mit der Ausblendung der Politik blieb auch die gesellschaftliche Wirklichkeit ausgespart, deren Widersprüche in den Protesten gegen den Vietnamkrieg ihren sichtbarsten Ausdruck fanden und zu einem Vertrauensverlust vieler in die USA und die von ihnen repräsentierte demokratisch-kapitalistische Wertordnung führten.

In ihrem Bemühen um Neutralität haben Hauff und Aust nur sehr wenig unternommen, um diese Wirklichkeit zumindest in die filmische Aufarbeitung des Prozesses wieder einzuführen. Die Reaktion des Staates auf die Herausforderung einer bewaffneten Opposition erscheint als eine feste Größe. Es gibt auch keine Erklärungen oder Erklärungsangebote für die Bereitschaft einer jungen Generation zur Gewalt, für die Verstricktheit der Terroristen in die für sie nicht anders denn durch Bomben auflösbaren Widersprüche. Einige karge biographische Daten zu Beginn, einige Fotos von Opfern der Terroranschläge, einige politische Argumentationsansätze der Angeklagten sind zuwenig, um fruchtbare Anregungen für eine heute sicher notwendige und mögliche Diskussion über die Legitimität oppositioneller und staatlicher Gewalt gewinnen zu können.


Hauff glaubt, die Frage nach dem Recht auf "Widerstand" im Stammheimer Prozess in einer dramaturgischen Zuspitzung zeigen zu können, als "menschliches Drama mit vielen Zügen von Tragödien und Wahnsinn". Aber seine weitgehende Beschränkung auf bloße Rekonstruktion mindert den Erkenntniswert dieser "modernen Parabel". Austs Frage, was sich in den Köpfen der Beteiligten abgespielt haben mag, bleibt unbeantwortet. Sein Bestreben, "Aufklärung" zu geben, "über einen Versuch, politische Veränderung mit den Mitteln des Terrorismus durchzuführen", und darüber, "wohin das führt und wie der Staat sich verändert", bleibt im Ansatz stecken. So werden die Trennung Ulrike Meinhofs von den Mitangeklagten und ihr vermutlicher Selbstmord ebenso wenig nachvollziehbar, wie die offensichtliche Hysterie in der Bundesrepublik, die zu der von Hauff eindrucksvoll geschilderten Überreaktion der Justiz führte: Beton, Maschinenpistolen, Isolationshaft und freizügiges bis willkürliches Hantieren mit rechtlichen Bestimmungen.

Die Unversöhnlichkeit, mit der sich, wie Aust richtig feststellt, die Angeklagten und der von Richtern und Bundesanwaltschaft repräsentierte Staat gegenüberstehen, ist von Beginn an gegeben, auch wenn sie sich von Zeit zu Zeit steigert und nach Prozeßende, nach der in Mogadischu gescheiterten Gefangenenbefreiung der noch immer mit Zweifeln behaftete Selbstmord von Baader, Ensslin und Raspe steht. Anders als in Austs sehr viel aufschlußreicherem Buch vermittelt "Stammheim" im wesentlichen nur zwei Eindrücke: Gerichtsverhandlungen und Haftbedingungen wie hier machen Menschen kaputt, erschüttern die Glaubwürdigkeit des Rechtsstaats. Und: Kampfaufrufe, deren Welt- und Menschenbild zwischen kaum anderem als imperialistisch und anti-imperialistisch, zwischen Schweinen und Menschen unterscheiden kann, lassen auch heute noch nicht vermuten, dass hier Wegbereiter einer menschlicheren Gesellschaft am revolutionären Werk sind.


Zeitgeschichtliche Dokumentationen sind notwendig, das Bemühen um Objektivität ist anerkennenswert. Aber ein Film wie "Stammheim", der bei einer historisch so folgenschweren Auseinandersetzung nichts erklären will, den Mut zu einer eigenen – möglichst differenzierten – Interpretation nicht findet, versäumt gerade die Chance, die er bieten will, eine Diskussion zu eröffnen über Gewalt, sei sie staatlich oder terroristisch, und über den Umgang mit ihr. Aust selbst hat auf das Problem der "Balance" in "Stammheim" hingewiesen: "Wer den Film nur durch die Brille seines Glaubensbekenntnisses sehen kann, der wird sich nicht wesentlich von seiner Sicht abbringen lassen."

Es bleiben viele offene Fragen und die gute Absicht der Autoren. "Realität nüchtern und sachlich betrachten", so hofft Aust, "heißt die Menschen befreien aus Unmündigkeit und Nichtwissen und sie dazu bringen, dass sie Autoritäten nicht ohne weiteres akzeptieren". Das Zögern der öfftenlich-rechtlichen Fernsehanstalten, "Stammheim" mit zu produzieren, erscheint im nachhinein unbegründet. Hauff und Aust haben durch ihre distanzierte Darstellung des Stammheimer Geschehens einen durchaus im positiven Sinne statttragenden Film erschaffen. Sympathien für Terrorismus wird man ihnen sicher nicht nachsagen können, auch wenn die Angeklagten als von vornherein Unterlegene gleichsam zwangsläufig Sympathien bei den Zuschauern gewinnen. Aust hat vorsichtshalber noch einmal eine Einschätzung der Aktionen der Baader-Meinhof-Gruppe/Rote Armee Fraktion gegeben: "Ich glaube, man muss manchmal sehr viel härter sein in der Beurteilung." Dass diese Botschaft verstanden wurde, haben die Tumulte bei der geplatzten Uraufführung in der Hamburger Kampnagelfabrik gezeigt.

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