Berlinale Retrospektive 2026: "Lost in the 90s"

Die Retrospektive der 76. Internationalen Filmfestspiele Berlin stellt mit "Lost in the 90s" eines der einflussreichsten Jahrzehnte der jüngeren Filmgeschichte ins Zentrum.

 

Nach dem Ende des Kalten Krieges und der Öffnung der Grenzen erlebte das Kino in den 1990er-Jahren einen kreativen Schub – in Berlin, in Osteuropa, aber auch international. Filmemacher*innen aus Ost und West entdeckten buchstäblich neue Räume: Während die krisengebeutelte Filmindustrie in Osteuropa sich an den Marktkapitalismus anpassen musste, herrschte in Berlin eine neu empfundene Freiheit. Filmemacher*innen begannen den Osten bzw. Westen zu entdecken und dort Filme zu drehen. Das Medium Video und der Musikfernsehsender MTV eroberten den Markt, die Digitalisierung begann – noch in Kinderschuhen – ihren Siegeszug und stilistisch war im Film alles möglich.

Berlinale-Direktorin Tricia Tuttle: "Ausgangspunkt der Retrospektive, die Heleen und ihr Team kuratiert haben, ist Berlin nach dem Fall der Mauer, einer Zeit des Umbruchs und der Neuanfänge, sowohl national als auch international. Genre- und visuelle Experimente sowie der rebellische Geist des Independent-Kinos prägen die Filme der nächsten Berlinale Retrospektive. Ich freue mich sehr auf diese spannende filmhistorische Reise mit Werken von Ulrike Ottinger, Harun Farocki, Chantal Akerman, Werner Herzog, Krzysztof Kieślowski und John Singleton – und vielen weiteren".

Die Retrospektive erzählt diese Epoche über die drei Schwerpunkte "Berlin", "East Meets West" und "The End of History" und versucht so den damaligen Zeitgeist einzufangen. Der erste Schwerpunkt liegt auf Berlin-Filmen der 1990er; so wird Michael Stocks "Prinz in Hölleland" (1993) Teil des Programms sein. Beim zweiten steht der Austausch von filmischen Erkundungen in Ost und West im Mittelpunkt, und den dritten Schwerpunkt, ironisch benannt nach Francis Fukuyamas mittlerweile überholter Theorie über "das Ende der Geschichte" und den Sieg des globalen Marktkapitalismus, bilden systemkritische Werke über den Aufstieg der Slacker und anderer Subkulturen. Vor allem der US-amerikanische Film zeichnete intensive filmische Porträts der Generation X, so "Slacker" (1990) von Richard Linklater, John Singletons "Boyz n the Hood" (1991) oder die Filme von Todd Solondz.

Heleen Gerritsen, seit Juni 2025 Künstlerische Direktorin der Deutschen Kinemathek und Leiterin der Retrospektive und der Berlinale Classics: "Etwa 430 Millionen Menschen erlebten Anfang der 1990er-Jahre gleichzeitig und hautnah die Folgen der Umbruchszeit nach dem Mauerfall und dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Das ging mit Krisen und Konflikten einher, aber die Grenzen und auch die Archive wurden geöffnet. Künstler*innen aus Ost und West reagierten auf die Ereignisse und begegneten sich. Bekannte Regisseur*innen wie Chantal Akerman, Jean-Luc Godard, Werner Herzog drehten Filme in Osteuropa, ebenso entstanden dort Ulrike Ottingers Film "Johanna d’Arc of Mongolia" (1989) sowie "Videogramme einer Revolution" (1992) von Harun Farocki und Andrei Ujica
Umgekehrt brachten Filmschaffende wie der Musikvideopionier Zbigniew Rybczyński, der Animationskünstler Jan Švankmajer und der polnische Ausnahmeregisseur Krzysztof Kieślowski neue Impulse in westliche Filmproduktionen. Wir freuen uns, dass ein Teil der Filme in der Kinemathek im E-Werk gezeigt wird, ein Industriedenkmal, das in den 1990er-Jahren als Technoclub diente, und das Thema der Retrospektive 2026 damit hervorragend repräsentiert".

Die Retrospektive 2026 umfasst 22 Filme, das vollständige Programm wird im Dezember 2025 vorgestellt. Begleitend finden in der Kinemathek im E-Werk Gesprächsrunden und Netzwerk-Events statt.

Neue Künstlerische Direktorin der Deutschen Kinemathek

Heleen Gerritsen studierte Slavistik, Osteuropäische Geschichte und Volkswirtschaft in Amsterdam sowie Russische Philologie in Sankt Petersburg. Bereits während des Studiums arbeitete sie für internationale Festivals und Produktionsfirmen, unter anderem bei Lenfilm und dem internationalen literaturfestival berlin. Nach Stationen in der Film- und Fernsehproduktion (u. a. für ARTE, SWR, RBB und SAT.1) übernahm sie kuratorische Leitungen: von 2014 bis 2016 bei dokumentART – Europäisches Dokumentarfilmfestival in Neubrandenburg, von 2017 bis 2025 beim DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum für das goEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films in Wiesbaden. Ihre Schwerpunkte liegen auf dem mittel- und osteuropäischen Kino, Erinnerungskultur und immersiven Erzählformaten. Heleen Gerritsen ist international als Jurymitglied, Referentin und Moderatorin tätig.

Quelle: www.berlinale.de