Berlinale 2017: Panorama Dokumente-Auswahl abgeschlossen & Special TEDDY Award 2017 für Monika Treut

Die Panorama Dokumente-Sektion eröffnet am 10. Februar 2017 mit vielfältigen Schwerpunkten. So stellen die ausgewählten Filme autoritäre Regime unter Beobachtung, widmen sich Almodóvars Muse und der elektronischen Avantgarde. Monika Treut erhält den Special TEDDY Award 2017 für ihre außerordentlichen Verdienste zur Charakterisierung queeren Filmschaffens.

Die französische Produktion "Belinda" von Marie Dumora wird die Panorama Dokumente mit einem Beitrag zum bereits gemeldeten Schwerpunkt "Europa Europa" eröffnen (siehe Nachricht vom 20.12.2016). Die Jenischen haben seit jeher einen schweren Stand im europäischen Nationalgefüge: Wie die Sinti und Roma lassen sie sich meist nicht einordnen, da sie rechtlich und sozial von der Mehrheitsbevölkerung ausgeschlossen sind. Die Großeltern der 15-jährigen Schwestern Belinda und Sabrina haben sich noch im deutschen KZ kennengelernt - sie wurden früh in Pflege gegeben und hatten Glück im Kinderheim La Nichée. Als dann das Leben beginnt, beginnt auch der Kampf mit der Welt - und diese ist auch im diversesten aller Kontinente von Begrenzungen und Regeln bestimmt. Ein eindringliches, erschütterndes Dokument einer Lebenswirklichkeit am Rande.

Drei Filme fordern zur historischen Neu-Betrachtung europäischer Ereignisse von Langzeitwirkung:

"No Intenso Agora" ("In the Intense Now") des Brasilianers João Moreira Salles, der ein Füllhorn an Archivmaterial der Pariser 68er-Ereignisse, Amateuraufnahmen der Niederschlagung des Prager Frühlings und privatem Bildmaterial des selbstbewussten China Maos gegenüberstellt, so wie es seine Mutter damals erlebt hat – eine politisch-private Reflexion.

Dann eine spannende Zeitreise in Jochen Hicks "Mein wunderbares West-Berlin" - in die queere Lebenssituation im West-Berlin der 60er bis 80er-Jahre, als die Emanzipation noch nicht erfunden war - die bis zu den Anfängen der Nachkriegs-Schwulenbewegung reicht.

Und schließlich ein tiefer Blick unter den Teppich der spanischen Verschwiegenheit in "Bones of Contention" der US-Amerikanerin Andrea Weiss: Auf der Suche nach den leiblichen Überresten der von den Faschisten ermordeten spanischen Dichter-Ikone Federico García Lorca stößt sie auf die völlig unbearbeitete LGBT-Unterdrückungsgeschichte unter Franco, aber auch auf die heutige Bewegung, deren Anstrengung, späte Gerechtigkeit für Hundertausende von "Verschwundenen" der Faschistenära zu erstreiten, auf wenig Gegenliebe stößt.

Einer auch auf Europa einflussnehmenden Frage geht der renommierte französische Regisseur Merzak Allouache nach in "Tahqiq fel djenna" ("Investigating Paradise"). Um sich ein Bild zu machen über die Todessehnsucht so vieler junger arabischer Männer auch in Algerien muss man verstehen, dass sie den blumigen Märchen ihrer geistlichen Anstifter glauben, nach dem Tod endlich gäbe es Sex und Wein. Die junge algerische Journalistin Nedjma recherchiert mit ihrem Kollegen Mustapha das Paradies, das salafistische Prediger jungen Männern versprechen. Eine dichte Analyse der extremen Ausprägungen eines destruktiv-konservativen Islam, der die Dominanz anstrebt.

Den ebenfalls erwähnten Schwerpunkt "Schwarze Welten" verstärkt "Strong Island" von Yance Ford. Der Regisseur verarbeitet die Ermordung des eigenen Bruders vor 25 Jahren in einem so persönlichen wie politischen Dokumentarfilm als formal offene Auseinandersetzung mit rassistischem Terror, Trauerarbeit und der schwelenden Wut über Ungleichheit.

Ist hier das Herz von "Amerika"? Und Rambo wohnt darin wie der Mann im Mond? "Erase and Forget" von Andrea Luka Zimmerman (Großbritannien) stellt nicht die Frage, sondern beantwortet sie. Der All American Hero, höchstdekorierter Soldat aller Zeiten mit hunderten von Menschenleben auf dem Gewissen, schweift wie ein gütiger Übervater durch Idaho, wo man stolz ist auf die hohe Diversität an Rechtsradikalismen; hier sind sie normal.

Zwei Filme blicken nach Lateinamerika und auf Strukturen, die von den links- und rechtsautoritären Gesellschaftsformen immer noch wirksam sind.

Lynn Hershman Leeson, zum dritten Mal im Panorama zu Gast, begleitet in "Tania Libre" die kubanische Künstlerin Tania Bruguera bei Sitzungen mit dem Traumatherapeuten Dr. Frank Ochberg. Sie will sich nach einer Haftstrafe wegen Landesverrats für eine regierungskritische Performance auf Kuba befähigen, um den invasiven Eingriff durch die paranoide Maschinerie der Volksdiktatur, inklusive der Aberkennung des Künstlerseins, zu verarbeiten. Die Gründerin des Institute for Artivism Hannah Arendt in Havanna wird bei Kubas nächsten Präsidentschaftswahlen 2018 kandidieren. Der zweite Film kommt aus Chile: "El Pacto de Adriana" ("Adriana's Pact") von Lissette Orozco. Die Regisseurin stößt zufällig auf Hinweise, dass ihre einstige Lieblingstante Adriana zu Zeiten der Pinochet-Diktatur für den Geheimdienst tätig war. Ihre Nachforschungen ergeben ein Bild, das sich nach allen Diktaturen finden lässt: Jene, denen es gut ging im Terrorregime, leugnen in der Folgezeit standhaft ihre Täterschaft. Ein Makrokosmos öffnet sich in der intimen Familiengeschichte - und niemand wusste nichts.

In die Gegenwart hingegen führt die französisch-schweizer-palästinensische Co-Produktion "Istiyad Ashbah" ("Ghost Hunting") von Raed Andoni. Für Dreharbeiten zu einem Film spielen Ex-Gefangene aus israelischer Haft in einer Art Aufstellung ihre Erfahrungen nach, im Rollenspiel und häufig an der Grenze zur Traumatherapie. Hunderttausende Palästinenser haben solche Erfahrungen in vielen Formen gemacht - welche Auswirkungen wird das für die betroffenen Gesellschaften in der Zukunft haben?

Drei außergewöhnliche Musik-Dokumente bilden einen letzten Schwerpunkt:

Zum einen "Chavela" von Catherine Gund und Daresha Kyi, eine Hommage an die mexikanische Sängerin Chavela Vargas, deren außerordentliches Talent sie durch die Konzertsäle der Welt trug, und deren entbehrungsreiches, unabhängiges lesbisches Leben von einer Haltung zeugte, die sie bis ins hohe Alter nicht verließ. Das letzte Konzert der Geliebten von Frida Kahlo, das unter dem Schutz von Pedro Almodóvar stattfand und in dessen Filmen sie immer zu hören sein wird, war in Madrid eine Hommage an den großen spanischen Dichter und Homosexuellen Federico García Lorca (siehe auch den Panorama-Beitrag "Bones of Contention").

Zum anderen thematisieren zwei Filme elektronische Musikkultur in Deutschland: Ein Erfinder, Erneuerer, ein Schöpfer des Genres ist Edgar Froese. "Revolution of Sound. Tangerine Dream" von Margarete Kreuzer widmet sich der Bandgeschichte und ihrer einflussreichen, weltbekannten Musik - während Regisseur Romuald Karmakar sich noch einmal den Schauplätzen seiner "Club Land Trilogie" zuwendet: Mit "Denk ich an Deutschland in der Nacht" holt er den Entwicklungsstrang des Musik-Genres ins Heute. Er lässt uns berühmten DJs bei der Arbeit zuschauen und -hören wie Ricardo Villalobos, Sonja Moonear, Ata, Roman Flügel und Move D/David Moufang.

Nach ihrem Panorama-Erfolg "Anderson" ist Annekatrin Hendel zurück mit einer höchst intimen Freundschaftsgeschichte mit gesellschaftlicher Dimension. In "Fünf Sterne" verbringt sie vier existenzielle Wochen mit ihrer Freundin in einem Hotel am Meer. Die Themen der beiden Frauen kreisen um die oft glamouröse Vergangenheit in Ostberlin, den aktuellen Kampf mit einer Diagnose - und wie sich Lebensentwürfe zum Leben verhalten.

Apropos Lebensentwürfe: Die gibt es in "Dream Boat" von Tristan Ferland Milewski in Fülle, auch wenn sie sich unter der Prämisse einer kurzzeitigen Gesellschafsmanipulation auf einer Kreuzfahrt nur für schwule Männer zu gleichen scheinen. Eine Gesellschaft ganz ohne Heteros, die normalerweise die Welt dominieren, und ganz ohne Frauen: Unter Aussonderung der Mehrheit wird die Minderheit zu einer solchen. Viele der 3000 Teilnehmer kommen aus Ländern, in denen sie nur unter Gefahren sein können, wie sie sind: Hier wird die Existenz im Konzentrat erlebt und stellt für die Teilnehmer nicht nur physisch eine Herausforderung dar.

Special TEDDY für Monika Treut

 Der Special TEDDY Award wird vom Förderverein TEDDY e.V. an eine*n Filmschaffende*n vergeben, deren/dessen Verdienste über die Jahre zur Charakterisierung queeren Filmschaffens Außerordentliches beigetragen haben.

Monika Treut prägte als Regisseurin, Produzentin und Autorin nicht nur das feministische und lesbische Kino seit den 80er Jahren, sondern auch die deutschsprachige unabhängige Filmszene und inspirierte als Wegbereiterin des New Queer Cinema bis hinein ins US-amerikanische Indie-Kino. Die Unerschrockenheit und der konventionskritische Ansatz ihrer Sujets und Ästhetiken sind eng verwandt mit der befreienden Energie der Spontibewegung der 70er Jahre. Ihre Dokumentation "Gendernauts" gewann 1999 den TEDDY Award als bester Dokumentarfilm und Publikumspreise auf der ganzen Welt. Auf der Berlinale wurden seit ihrem Spielfilmdebüt 1985 mit Elfi Mikesch, "Verführung: Die grausame Frau", mehr als zwölf ihrer Filme präsentiert. Aus Anlass der Preisvergabe im Rahmen der 31. TEDDY Awards am Freitag den 17. Februar zeigt das Panorama ihren zweiten Spielfilm, den Klassiker "Die Jungfrauenmaschine" aus dem Jahr 1989.

Panorama Dokumente

"Belinda" – Frankreich
Von Marie Dumora
Weltpremiere

"Bones of Contention"  - USA
Von Andrea Weiss
Weltpremiere

"Chavela" - USA
Von Catherine Gund, Daresha Kyi
Mit Chavela Vargas, Pedro Almodóvar
Weltpremiere

"Denk ich an Deutschland in der Nacht" ("If I Think of Germany at Night") - Deutschland
Von Romuald Karmakar
Mit Ricardo Villalobos, Sonja Moonear, Ata, Roman Flügel, Move D/David Moufang
Weltpremiere

"Dream Boat" - Deutschland
Von Tristan Ferland Milewski
Weltpremiere

"Erase and Forget" - Großbritannien
Von Andrea Luka Zimmerman
Weltpremiere

"Fünf Sterne" ("Five Stars") - Deutschland
Von Annekatrin Hendel
Weltpremiere

"Istiyad Ashbah" ("Ghost Hunting") – Frankreich / Palästinensische Gebiete / Schweiz / Katar
Von Raed Andoni
Weltpremiere

"Mein wunderbares West-Berlin" ("My Wonderful West Berlin") - Deutschland
Von Jochen Hick
Weltpremiere

"No Intenso Agora" ("In the Intense Now") - Brasilien
Von João Moreira Salles
Weltpremiere

"El Pacto de Adriana" ("Adriana's Pact") - Chile
Von Lissette Orozco
Weltpremiere

"Revolution of Sound. Tangerine Dream" - Deutschland
Von Margarete Kreuzer
Mit Edgar Froese, Peter Baumann, Christoph Franke, Johannes Schmoelling
Weltpremiere

"Strong Island" - USA / Dänemark
Von Yance Ford
Internationale Premiere

"Tahqiq fel djenna" ("Investigating Paradise") – Frankreich / Algerien
Von Merzak Allouache
Internationale Premiere

"Tania Libre" - USA
Von Lynn Hershman Leeson
Mit Tania Bruguera, Frank Ochberg
Gesprochen von Tilda Swinton
Weltpremiere

Bereits gemeldete Panorama Dokumente

"Casting JonBenet" - USA / Australien, von Kitty Green
"Combat au bout de la nuit" ("Fighting Through the Night") – Kanada, von Sylvain L'Espérance
"I Am Not Your Negro" - Frankreich / USA / Belgien / Schweiz, von Raoul Peck
"Política, manual de instrucciones" ("Politics, instructions manual") - Spanien, von Fernando León de Aranoa
"Ri Chang Dui Hua" ("Small Talk") - Taiwan, von Hui-chen Huang
"Untitled" - Österreich / Deutschland, von Michael Glawogger, Monika Willi

Quelle: www.berlinale.de