Heimsuchung

DDR 1989/1990 TV-Film

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Heinz17herne
Heinz17herne
Herbst 1989 im Brandenburgischen. Dörfliches Ambiente, Kanal, Schleuse. Christine Rautmann (Renate Geißler), Lehrerin an einer Erweiterten Oberschule (EOS), steht auf der Brücke und schaut nachdenklich auf die Wassertreppe. Über einen Feldweg an der Bahnstrecke, wo gerade ein Reichsbahn-Fernzug vorbeirattert, geht’s zurück in den Ort. Sie erwirbt im Kaufladen verschämt eine Flasche Schnaps, schaut kurz ins Blumengeschäft und geht über die ungepflasterte Straße nach Hause, wo sie zu ihrer Enttäuschung im Briefkasten nur eine Zeitung vorfindet.

Denn sie erhofft sich eine Nachricht von ihrem offenbar in den Westen rübergemachten Sohn Uwe (Thomas Büchel), nach dem sich auch die Nachbarin Scholze (Gudrun Okras) ständig erkundigt. Schlimmer noch: Auch ihrer Schulklasse ist Uwes Weggang nicht verborgen geblieben. Das zehrt in diesen Zeiten des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs, wo alle staatlichen Autoritäten, zu denen letztlich auch die Lehrer gehören, in Frage gestellt werden, besonders an ihren Nerven. Die durch Cognac und Mozarts Violinkonzert KV 219 von der Platte beruhigt werden sollen.

Nach einem Blick ins „Kinderzimmer“, wo Uwes geliebter Teddy verlassen auf dem Bett liegt, korrigiert die nach der Scheidung Alleinerziehende Deutscharbeiten: Literatur ist offenbar ein rotes Tuch für die Zwölftklässler, was selbst für Heinrich Heines „Deutschland. Ein Wintermärchen“ gilt. Die Aufsätze sind nicht zensurfähig: Thema verfehlt. Christine bleibt dabei: Man muss sich bewusst werden, was man im Leben will, ein Ziel oder auch ein Ideal verfolgen, für das es sich lohnt, zu leben. Ihr Sohn konnte freilich mit dem sozialistischen Menschenbild nichts mehr anfangen. Als ihre Freundin Erika (Carmen-Maja Antoni) sie für eine der selbst hier in der Provinz aus dem Boden sprießenden Diskussionsveranstaltungen abholen will, lehnt sie dankend ab: Dafür hat sie derzeit keine Nerven.

Auf dem Bildschirm läuft die „Aktuelle Kamera“: Seit das Fernsehen der DDR wieder Deutscher Fernsehfunk heißt, gibt es statt der Verlesung offizieller Verlautbarungen endlich eine substanzielle Berichterstattung. Die auch in ihrer Klasse Wirkung zeigt: „Gekuscht haben wir lange genug“ ist mehrheitliche Auffassung. Sie hält mit einer Frage dagegen: „Und die Menschlichkeit, die Wärme?“ Die Währungsunion hat Begehrlichkeiten geweckt, die der westdeutsche Kapitalismus nur zu gerne bedient.

Als Christine von der Schuldirektorin (Renate Richter) gebeten wird, im Pädagogischen Rat ihre Erfahrungen einzubringen, weiß sie gar nicht, was sie sagen soll. Es gibt keine Gewissheiten mehr – und auch keine Rezepte gegen den allgemeinen Autoritätsverlust. Zumal sie in den Augen ihrer Schüler gleich doppelt gescheitert ist – als Lehrerin und als Mutter. Immerhin kann sie auf die moralische Unterstützung ihrer Freundin Erika und des inzwischen pensionierten Kollegen Alfred Schramm (Horst Schulze) bauen. Der altersweise Schmetterlingssammler ist auf der Höhe der Zeit, beteiligt sich an einer Fahrraddemo in der Kreisstadt.

Erst als sie, von Niko (Marcus Hopp) als „Ehren-Gruftie“ eingeladen, zusammen mit der Klasse abends eine Disco besucht, schmilzt das Eis. Sie nimmt die Herausforderung an und tanzt zur großen Überraschung ihrer Schüler mit Niko, nachdem er zur Gitarre kritische Texte zur Wende-Zeit gesungen hat, die ihren Nerv getroffen haben – etwa über die dogmatische Hirn-Filzlaus. Überhaupt Niko: der sehr interessierte und hochbegabte Schüler zitiert aus „Cahlenberg“ des Ost-Berliner Schriftstellers Bernd Schirmer. Und damit aus einem Roman, der zwar 1989 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb mit dem Stipendium der Verlage bedacht wurde, aber erst 1994 (!) in Leipzig erschienen ist. Auch Christine steuert eine Geschichte bei, die man durchaus autobiographisch konnotieren kann: Im Kohlkopf haben sich Raupen eingenistet. Als sich diese zu Schmetterlingen entpuppen, flattern sie zu den Blumen auf der Wiese – und der Kohlkopf bleibt allein zurück.

Diese unkonventionelle Begegnung hat ihre Schockstarre gelöst, sie lässt sich von Erika zum Besuch einer Ausstellung mit Werken kritischer DDR-Künstler mitnehmen. In der sie ein Gemälde von Wolfgang Mattheuer sehr verstörend findet, aber zur Erkenntnis gelangt: „Ich muss da durch. Es muss wehtun, sehr wehtun.“ Der nur Hänschen genannte Organist (Fritz Marquardt) der Kirche, der ihren Sohn kennt, weckt in Christine das Bedürfnis, nach Uwe zu suchen. Nach einer wahren Odyssee kommen beide in Koblenz zusammen, wo er einer WG mit Kristiane (Regina Brandt) zusammenlebt. Ein Happy End bleibt aus: „Ich hab‘ dich nicht gerufen“ ist sein Kommentar, als ihm seine Mutter den alten Teddy überreicht.

Heimlich schleicht sich Christine am anderen Morgen davon, fährt wieder in den Osten zurück. In der Schule zerreißt sie sämtliche Eintragungen im Klassenbuch – und sitzt, nun in quadratischer Anordnung, stumm auf dem Stuhl, bis sie zu lachen anfängt – und das Lachen schließlich alle ansteckt. Es ist kein Lachen der Befreiung, eher eines aus Verzweiflung – vielleicht aber auch Ausdruck der Freude über die neugewonnene Freiheit…

„Heimsuchung” von Edgar Kaufmann (Szenarium, Buch und Regie) gilt als erster „Wende-Film” aus Adlershof (PL Tilo Mittelstraß). Gedreht im Frühjahr 1990 u.a. in Biesenthal (Schule), Bernau (Club am Steintor) und am Rhein (Kamera: Martin Schlesinger) ist der Neunzigminüter am 3. September 1990 im DFF erstausgestrahlt worden.

Pitt Herrmann

Credits

Alle Credits

Länge:
90 min
Aufführung:

TV-Erstsendung (DD): 03.09.1990, DFF

Titel

  • Originaltitel (DD) Heimsuchung

Fassungen

Original

Länge:
90 min
Aufführung:

TV-Erstsendung (DD): 03.09.1990, DFF