Geschlossene Gesellschaft

DDR 1978 TV-Spielfilm

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Heinz17herne
Heinz17herne
Ellen und Robert könnte man als Vorzeige-Ehepaar der DDR bezeichnen, jedenfalls dem ersten Eindruck nach: Sie arbeitet als Pädagogin („Jugendhelferin“) nicht nur an der Schule, sondern kümmert sich auch im gesellschaftlichen Auftrag um straffällig gewordene Schüler und deren Familien. Er hat als experimentierfreudiger Ingenieur dem Staat gerade eine Million Mark erspart. Und beide haben mit Nicki (Andreas Pfaff) einen kleinen, aufgeweckten und sehr lebendigen Sohn.

Auf den zweiten Blick erscheint es schon merkwürdig, dass Ellen alte Familienfotos wildfremder Menschen sammelt und sie sich förmlich über das Bett hängt: Eine ganze Wand ist mit den schwarz-weißen Zeugnissen früherer Epochen zugepflastert. Ist sie mit der eigenen Biographie nicht schon genug ausgelastet, als dass sie sich die Auseinandersetzung mit anderen wünscht, und sei es auch nur optisch?

Ellen und Robert stoßen auf den kurz bevorstehenden gemeinsamen Urlaub an, es soll in ein Ferienhaus gehen irgendwo weit draußen, aber zusammen mit Freunden. Auf der Fahrt dorthin werden sie am anderen Tag Zeuge eines Autounfalls mit mehreren Schwerverletzten und vielleicht sogar Toten. Während sich Ellen in den Fond zu Nicki setzt, um alle möglichen Eindrücke von ihrem offenbar doch nicht so robusten Sohn fern zu halten, setzt Robert die Fahrt fort, obwohl sich die Eheleute sicher sind, den Unfallwagen als den ihrer Freunde Alf und Vera identifiziert zu haben, welche offenbar auch auf dem Weg ins Ferienhaus gewesen sind.

Als diese am späteren Abend noch nicht eingetroffen sind, erkundigt sich Robert bei der Polizei: Alf und Vera sind in der Tat, und zwar schuldlos, in den schweren Unfall verwickelt worden, bei dem ein Fahrradfahrer ums Leben gekommen ist. Robert kann beide in der Klinik besuchen, es geht ihnen den Umständen entsprechend gut, aber der gemeinsame Urlaub ist geplatzt. Auch weil das dritte Paar, Peter und Rosa, berufsbedingt abgesagt hat, wie Robert bei der Schlüsselübergabe vom Ferienhaus-Verwalter Karl erfuhr, der ein entsprechendes Telegramm erhalten hat.

„Ist das komisch hier. Die Stille erscheint mir wie Lärm“ stellt Ellen fest, obwohl sie sich schon seit langem einen Urlaub zu dritt gewünscht hat. Es kriselt offenbar schon geraume Zeit in der Ehe, die beiden leben neben- statt miteinander. Und analysieren ihre Situation auf hohem geistigem Niveau. Was ihnen freilich ebenso wenig weiterhilft wie Eloquenz: Als er zugibt, fremd gegangen zu sein, zieht sie innerlich die Vorhänge zu und spielt furios auf der Klaviatur des Zynismus. Und mehr noch: Plötzlich kann Ellen sich vorstellen, mit gleicher Münze zurückzuzahlen. Die Gelegenheit ergibt sich beim Kraftfahrer Bernd, dessen asozial-kriminellen Bruder sie einmal erzieherisch betreuen musste...

„Geschlossene Gesellschaft“ zeichnet ein düsteres Bild des Zustandes nicht nur der Intellektuellen in der DDR am Ende der Siebziger Jahre. Eine merkwürdige, geradezu unheimlich-lähmende Stimmung scheint über dem Land zu liegen wie Eiskristalle nach Bodenfrost. Klaus Poche und Frank Beyer haben einen metaphernreichen, vielfach verschlüsselten Film gedreht über Hoffnungen und Wünsche, Zweifel und Resignation. „Lieber gar keine Bewegung als eine falsche“ resümiert ein desillusionierter Robert, der sich heute selbst seinen Idealismus vorwirft, der einer möglichen „Karrieregeilheit“ im Weg gestanden habe.

„Sind wir klüger geworden?“ fragt Robert am Ende und erhält von Ellen die Antwort: „Ich weiß nicht, vielleicht anders.“ Dazu beigetragen hat mit Karl eine geradezu märchenhafte Figur. Der ehemalige Physiker hat im Leben nur noch das Ziel, sich die Naivität der Kindheit zurück zu erobern, weshalb er sich stets mit den Kindern des Dorfes oder denen der Feriengäste umgibt. Auch Nicki profitiert von diesem weisen „Onkel“, der ihm mitten im Winter einen üppig bestückten Apfelbaum verspricht, unter dem sich alle zum Picknick versammeln können – und sein Versprechen mit viel Phantasie in die Tat umsetzt. Nicki hat mitbekommen, dass er als kleineres Kind eine gewisse Zeit über nicht mehr richtig hat laufen können und kokettiert nun mit dieser längst wieder verschwundenen Behinderung. Der Märchenonkel Karl zeigt Nicki und seinen konsternierten Eltern, dass es sich lohnt, wenn man wieder lernt, zu träumen...

Nach den unzweideutigen Attacken den 9. Plenums des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands gegen Kulturschaffende wurde 1973 das Defa-Filmprojekt „Die zweite Haut“ von Klaus Poche (Buch) und Roland Gräf (Regie) gestoppt. Die offenbar allzu kritische Bestandsaufnahme einer Ehe im real existierenden Sozialismus konnte erst 1981 mit dem Westdeutschen Rundfunk (Köln) realisiert werden. Poche, der 1979 mit acht weiteren Autoren aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen wurde, hatte im Jahr zuvor in einer Art Husarenstück mit dem Adlershofer DDR-Fernsehen statt der Babelsberger Defa sein Projekt doch noch realisieren können – und zwar mit prominenter Besetzung. „Geschlossene Gesellschaft“, ein thematisch ganz ähnliches Sujet, löste freilich einen der größten, da heftig debattierten Zensur-Skandale des DDR-Fernsehens aus: Nach der Erstausstrahlung am 29. November 1978 verschwand das Kammerspiel im „Archiv“ genannten Giftschrank.

In einem auch von Klaus Poche, Jutta Hoffmann und Armin Mueller-Stahl unterzeichneten Brief Frank Beyers an den Verband der Film- und Fernsehschaffenden der DDR wehrte sich das Team nicht nur gegen das Aufführungsverbot, sondern dezidiert auch gegen die Begründung, an der sich die Handschrift der Abteilung Agitation des ZK der SED ablesen lässt: Den Künstlern werde „die politische Ehre abgeschnitten“ und „die künstlerische Fähigkeit abgesprochen“. Gipfelpunkt sei der Schlusssatz, in dem „die Hoffnung ausgesprochen“ wird, „dass der Film durch Sendezeit und Platzierung von möglichst wenig Zuschauern gesehen“ werde.

Pitt Herrmann

Roller22
Nachtgedanken
Ich sah den Film zuletzt vor ungefähr 25 Jahren. Selbst gerade 25 Jahre alt war der Stoff augenscheinlich noch etwas schwer. Aber Stahl war da schon für mich ein absoluter Ausnahmekünstler. Wo sein Name draufsteht..bekommt man hochwertige Qualität. Eben weil er seinen Namen nicht überall draufklebte. Darum sah ich mir "Geschlossene Gesellschaft" an, wegen Stahl. Nun, 50ig jährig "lief" der Film mir wieder zufällig über den Weg, in der Mediathek des MDR. Und ich saugte das Spiel von Ellen und Robert auf, von Bernd, Plathe und Karl. Mit etwas mehr Lebenserfahrung ausgestattet, erschloss sich mir nun zu mitternächtlicher Stunde die Doppeldeutigkeit, ein echtes intellektuelles Feuerwerk. "Das Allgemeine läßt das Nächstliegende außer acht." Sein letzter Film in der DDR, eine geschickt interpretierte Abrechnung mit dem System einer tatsächlich in sich geschlossenen Gesellschaft. Und je mehr man sich dem Spiel hingibt und sich mitziehen lässt, umso mehr erscheint einem seine eigene geschlossene Gesellschaft dieser Zeit...bis ins Hier und Jetzt. Was aber die Gedanken auch sind, ist, wie blind die Staatslenker der DDR auf beiden Augen gewesen sein müssen. Besser zuhören, gerade den Kunstschaffenden, den Intellektuellen dieser Zeit, den Schriftstellern und Wissenschaftlern. Am Ende dem Volk. Ein Manfred Krug bei seinem Spiel in "Wege übers Land"...was brannte der Kerl für die doch gut gemeinte Sache, Menschlichkeit und ehrliches Leben. Da war noch nichts verschenkt als Chance nach dem Krieg. Gut, die rote Seite Deutschlands machte es nicht einfacher. Aber zumindest unter Ulbricht gab es doch noch so etwas wie einen kleinen Ruck. Wobei dabei auch sein Tritt gegen die Kulturschaffenden nicht vergessen werden darf. Ich meine, einen Typen wie Manfred Krug dazu zu bekommen, seine Werte über den Haufen zu schmeißen und in der Konsequenz "abzuhauen"...wie viel muss da schon schiefgelaufen sein zwischen Staatsmacht und Bevölkerung, wie groß die Lücke von Lenkern und Gelenkten."Paul und Paula"...ein weiteres Beispiel absoluter Blindheit der Parteifunktionäre. Es gab genug Hinweise, und die Staatsmacht hätte nur zuhören brauchen, nachfragen, sich tatsächlich der Stimmen stellen die da zur genüge aus allen Bevölkerungsschichten kamen. Stichwort Eingaben. Filme sind ein wunderbares Medium um solche Nachrichten verdeckt oder völlig offen, zu transportieren....Und Armin Mueller-Stahl hat es wieder geschafft, mich mitternächtlich in solche Gedankenwelten abgleiten zu lassen. Und das macht solche Ausnahmekünstler so wertvoll. Man sollte öfter auf sie hören...

Credits

Alle Credits

Länge:
3370 m, 118 min
Format:
35mm, 1:1,33
Bild/Ton:
Orwocolor, Magnetton
Aufführung:

TV-Erstsendung (DD): 29.11.1978, DDR-TV

Titel

  • Originaltitel (DD) Geschlossene Gesellschaft

Fassungen

Original

Länge:
3370 m, 118 min
Format:
35mm, 1:1,33
Bild/Ton:
Orwocolor, Magnetton
Aufführung:

TV-Erstsendung (DD): 29.11.1978, DDR-TV