Erik & Erika

Österreich Deutschland 2017/2018 Spielfilm

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Heinz17herne
Heinz17herne
Die Hebamme schaut ungewöhnlich genau nach im Juni 1948, bevor sie Papa Schinegger mit dem Ausruf „Ein Mäderl!“ enttäuscht: ein Bube als Hoferbe wäre ihm lieber gewesen. Dabei ist die Erika schon als Siebenjährige (Lina Sophie Koch) vorneweg beim Seifenkistenrennen im Ort und auch sonst den gleichaltrigen Jungs zumindest ebenbürtig. Was ihre Mutter verzweifelt seufzen lässt: „Die Puppn hats no nie angrührt, aber den kleinen Traktor nimmt sie mit ins Bett!“

Mit Dreizehn liegt Erika (Sara-Lea Kummer) unterm richtigen Traktor und repariert die Dichtung. Anstatt ihr dankbar zu sein, scheucht sie der Papa hinaus: „Ein sauberes Madel hat in der Werkstatt nichts zum suchen.“ Sie fühlt sich draußen in der Natur Mittelkärntens am wohlsten und zimmert sich daheim ihre ersten Skibretter selbst. Als Mama ihr zum Geburtstag neue Skier schenkt, gibt’s für Erika (nun Markus Freistätter) kein Halten mehr: als Schnellste im Slalom und Waghalsigste im Abfahrtslauf schlägt sie auf der Piste selbst die Männer des Nationalkaders. So wird der Österreichische Ski-Verband auf das hochgewachsene, muskulöse Bauernmadel aufmerksam.

Das sich heimlich mit einem Problem herumschlägt: ihre beste Freundin Christa „blutet“ schon seit geraumer Zeit, während sich bei Erika die Regel noch nicht eingestellt hat – trotz der bei ihrer älteren Schwester Monika besorgten Binden, die sie stolz im Schulbus herzeigt. Körperlichen Vergleichen mit gleichaltrigen Mädchen etwa unter der Dusche geht sie konsequent aus dem Weg: es will ihr noch nicht einmal ein kleiner Ansatz von Busen wachsen. Was skurrile Formen annimmt, nachdem der ÖSV-Trainer Martin Wimmer ihren Vater überreden konnte, Erika ins Wintersport-Leistungszentrum ziehen zu lassen.

Nach ersten Weltcup-Erfolgen füllen sich die Regale daheim mit Pokalen. Nicht nur die Familie, das ganze Dorf ist stolz auf Erika. Beim Fotoshooting des Nationalteam-Sponsors Kneissl steht sie bereits im Mittelpunkt, obwohl Firmenchef Hubert Grassl ätzt: „Schön is sie net, aber schnell is sie halt!“ Bei der Weltmeisterschaft in Chile 1966 holt die 18-Jährige Gold in der Damen-Abfahrt – und der Bürgermeister träumt bereits vom kommerziellen Aufschwung „Ski-Zirkus St. Urban“.

Nächstes erklärtes Ziel ist die Teilnahme an den Olympischen Spielen 1968 in Grenoble. Nach der Aufdeckung des staatlich organisiertem Hormon-Dopings im Ostblock werden erstmals „Sex-Tests“ zur Geschlechtsbestimmung durchgeführt. Bei Erika wird ein männliches Y-Chromosom festgestellt, sie darf nicht mit nach Frankreich fahren und soll ihren freiwilligen Rücktritt aus dem Nationalteam erklären. Weil die Medien inzwischen Wind von der Causa Schinegger bekommen haben, wird Erika im Innsbrucker St. Barbara Spital kaserniert, in der sich die empathische Ordensschwester Sigberta um sie kümmert.

„Mit ein paar Tabletten oder Spritzen werden wir das alles schon in Ordnung bringen. Rennen wirst allerdings nimmer fahren können“ versucht der ÖSV-Präsident Dr. Fischer nicht nur Erika zu beruhigen. Sondern vor allem seinen Verband, der unter Verdacht steht, am angeblichen Betrug kräftig mitgewirkt zu haben. Wie skrupellos die Verbandsfunktionäre handeln im Bemühen, Erika mit einer „völlig unkomplizierten“ Operation ganz zur Frau machen zu lassen, offenbart eine in die Öffentlichkeit lancierte Denunziation: Dreißig männliche ÖSV-Athleten bestätigen mit ihrer Unterschrift, dass sie Sex mit Erika hatten – sie also eine Frau sein muss. Diese in Österreich verniedlichend „Vernaderung“ genannte Denunziation soll vor allem Erikas Vater dazu bringen, einem entsprechenden klinischen Eingriff bei seiner mit 19 Jahren noch nicht volljährigen Tochter zuzustimmen.

Erst das beherzte Eingreifen der Verbandssekretärin Liesl Sumatter und der Ordensschwester Sigberta sorgen dafür, dass der Urologe Professor Dr. Kübler dem verbrecherischen Treiben seines Kollegen, des Gynäkologen Dr. Ramsauer, durch eigene Untersuchungen ein Ende bereitet. Bei Erika liegt ein Pseudohermaphrodismus vor: sie ist ein Mann. Hoden und Penis sind vollständig vorhanden, allerdings ins Körperinnere gestülpt. Dieser vergleichsweise geringfügige Geburtsfehler wäre seinerzeit leicht behebbar gewesen – nun muss sich Erika einer Tortur unterziehen, bis aus ihr Erik wird. Dankbar stellt der sich dem wissenschaftlichen Nachwuchs zur Verfügung: die Studenten des Professors erfahren erstmals die anatomische Anomalie eines intersexuellen Menschen.

Christa ist bereit, ihren nun besten Freund Erik endgültig zum Mann zu machen. Nur der ÖSV verbaut ihm die Fortsetzung seiner erfolgreichen Wintersport-Karriere. Das von Erik gerichtlich erstrittene Comeback wird von den Offiziellen sabotiert, sodass es zum schweren Unfall auf der Abfahrtspiste kommt…

„Erik & Erika“ ist eine hanebüchen-unglaubliche, aber – durch die Montage historischen Originalmaterials verifizierte - wahre Story über gesellschaftliche Konventionen und festgefügte Geschlechterrollen, die am 2. März 2018 in die österreichischen Kinos kam. Nach 110 Minuten endet der Film offen, die reale Geschichte einer persönlichen Befreiung dagegen glücklich: Erik Schinegger lebt heute als 72-jähriger Ehemann und Vater einer Tochter in Kärnten, wo er zwei Gasthöfe und eine Skischule betreibt. Unter dem Titel „Einer wie Erika“ ist das auf 90 Minuten gekürzte Biopic am 6. Januar 2020 auf ORF 2 erstmals im österreichischen und am 25. November 2020 in der ARD erstmals im deutschen Fernsehen gelaufen.

Regisseur Reinhold Bilgeri im ARD-Presseheft: „Da strampelt sich ein ehrgeiziges Mädel mit Burschenmuskeln bis hin zum Gipfel des Hügels, der Österreich alles bedeutet, und wird dann ‚enttarnt‘ als vermeintlicher Betrüger und mit nassen Fetzen ins Ausgedinge gejagt. Ein Opfer ohne jede Schuld, von einer gnadenlosen Journaille über die Medienbühne geschleift – das ist eine Geschichte, die erzählt werden musste und zwar auf großer Leinwand, um die Besudelung der Würde eines von einer hinterfotzigen Natur stigmatisierten Menschen deutlich zu zeigen. Es ist die Geschichte eines vermeintlich gebrochenen Helden, der als Frau und als Mann gelebt hat, die Geschichte eines Traumatisierten, der durch zwei Höllen gehen musste, durch seine persönliche und viel schlimmer, durch die Hölle der Öffentlichkeit. Es ist die Geschichte der Ohnmacht und Hilflosigkeit einer Gesellschaft, die von ihren Tabus entlarvt wird, eine Geschichte von Intoleranz, Vorurteilen und Scheinheiligkeit, ausgetragen auf den Schultern eines Teenagers, der nur eines wollte: Schnell Skifahren. Vielleicht waren sein Überleben und schließlich der beeindruckende Kraftakt, sein Leben wieder ins Lot zu bringen, der größte Sieg seines Lebens.“

Pitt Herrmann

Credits

Drehbuch

Schnitt

Musik

Darsteller

Produktionsfirma

Alle Credits

Dreharbeiten

    • 12.03.2017 - 28.04.2017: Kärnten, Wien und Innsbruck
Länge:
98 min
Format:
DCP
Bild/Ton:
Farbe, Ton
Aufführung:

Erstaufführung (DE): 2018, Gauting / Seefeld / Starnberg, Fünf Seen Filmfestival;
TV-Erstsendung (AT): 06.01.2020, ORF 2;
Aufführung (DE): 25.11.2020, ARD;
TV-Erstsendung (DE): 25.11.2020, ARD

Titel

  • Originaltitel (DE) Erik & Erika
  • Weiterer Titel (DE) Erik. Weltmeisterin
  • TV-Titel (DE) Einer wie Erika

Fassungen

Original

Länge:
98 min
Format:
DCP
Bild/Ton:
Farbe, Ton
Aufführung:

Erstaufführung (DE): 2018, Gauting / Seefeld / Starnberg, Fünf Seen Filmfestival;
TV-Erstsendung (AT): 06.01.2020, ORF 2;
Aufführung (DE): 25.11.2020, ARD;
TV-Erstsendung (DE): 25.11.2020, ARD