Inhalt
Aus den großen Ambitionen von Anna als Violinistin musikalische Karriere zu machen ist zwar nichts geworden, aber als Lehrerin an einem Musikgymnasium, mit einer halbwegs harmonischen Ehe, einem Liebhaber und einem wohlgeratenen Sohn hat sie sich in ihrem Leben gut eingerichtet. All das wird jedoch in Frage gestellt, als sie mit großem Ehrgeiz und zunehmender Obsession den in ihren Augen überaus talentierten 12-jährigen Alexander unter ihre Fittiche nimmt, um ihn auf eine Prüfung vorzubereiten. Immer mehr Zeit verbringt sie mit dem Jungen und beginnt für ihn ihre Familie zu vernachlässigen. Schon bald gerät durch die Verschiebung von Annas Prioritäten ihre Ehe in eine Krise, und auch zwischen Anna und ihrem Liebhaber, dem Cellisten Christian, kommt es zu immer größeren Spannungen als sie scheinbar alles daransetzt, ihrem Schützling Alexander die Karriere zu ermöglichen, die ihr selbst verwehrt blieb. Am Tag der Prüfung kommt es dann zur Katastrophe...
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Anna hat ihre Mutter als Zwölfjährige verloren und ist von ihrem ehrgeizigen, nun aber kränkelnden Vater Walter zu einer einst prominenten Konzertmusikerin mit eigenen Plattenaufnahmen getriezt worden. Die „Hart wie Krupp-Stahl“-Erziehungsmethode setzt er jetzt bei seinem Enkel fort, indem er dessen Hand in einen Ameisenhügel steckt: „Hab dich nicht so, der Junge lernt!“ gibt er seiner darob entsetzten Mutter zu verstehen.
Philippe arbeitet als Instrumentenbauer auch für den Kollegen seiner Gattin. Er ist nicht erfreut, als ihm Christian Wels mitteilt, Anna habe sich dazu entschlossen, in seinem Streichquintett mitzuwirken und wieder öffentlich aufzutreten. Er weiß um die psychologische Barriere seiner Gattin, die damals auch aufgrund zu großer Nervosität vom Konzertpodium ins Gymnasium gewechselt ist.
Philippe bemerkt den Stimmungsumschwung seines Sohnes und nimmt ihn häufiger in seine Werkstatt mit, um ihn abzulenken und mit kleineren Arbeiten zu betrauen. Doch Jonas, der heimlich beobachtet, wie intensiv sich seine Mutter ihrem Lieblingsschüler widmet, ja ihn zehn Tage vor der Prüfung sogar daheim unterrichtet, zieht einen Schlussstrich unter das Kapitel Musik, um sich fortan ganz der Mannschaftssportart Eishockey zu widmen. Immerhin bei seinem Vater findet er Verständnis: „Die Geige ist nur ein schmales Stück im Leben.“ Philippes Maxime lautet, dass jeder sein Leben selbst bestimmen soll.
Bei ihrem ersten öffentlichen Konzert im ausverkauften Stadttheater mit dem Quintett ihres auch privat sehr an ihr interessierten Kollegen Christian Wels fliegt der hochnervösen Anna ihr Geigenbogen aus der Hand. Sie schämt sich in Grund und Boden und richtet nun ihren ganzen Ehrgeiz auf Alexander. Der wehrt sich zuletzt auch körperlich gegen übergriffige Zumutungen seiner jegliche Selbstbeherrschung aufgebenden Lehrerin – und scheint zur alles entscheidenden Zwischenprüfung nicht zu kommen, sodass Anna beschämt das Auditorium verlässt.
Als sie plötzlich „seine“ Musik hört, die berühmte Chaconne aus der Partita Nr.2 d-Moll für Violine solo BWV 1004 von Johann Sebastian Bach, kehrt sie zurück und wird Zeugin eines umjubelten Auftrittes ihres Schützlings. Von Gratulanten umgeben will Anna mit ihm sprechen, aber er versucht, möglichst rasch das Gebäude zu verlassen. Dabei kommt es zu einem folgenschweren Unglück…
Wie in ihrem preisgekrönten Debüt „Der Architekt“ (2008) erzählt Ina Weisse zusammen mit Co-Autorin Daphne Charizani in ihrem zweiten Spielfilm als Regisseurin auf ebenso berührende wie schonungslose Weise von der Brüchigkeit der Beziehungen innerhalb einer Familie. Dabei beleuchtet sie genau das spezifische Umfeld von Musikern: Es geht um die Liebe und Hingabe zur Musik und gleichzeitig um die dunkle Kehrseite: um Konkurrenzdruck, Neid und Eifersucht, hier vor allem auch um lähmende Versagensängste und eine nicht mehr steuerbare Besessenheit, die durchaus (selbst-) zerstörerische Kräfte freisetzen kann. Und das, Achtung: Spoiler!, auch bei Jonas, der plötzlich wieder Unterricht bei Frau Köhler nimmt, die ihn für „wirklich begabt, überhaupt nicht durchschnittlich“ hält und im Schulorchester mitwirkt.
Ina Weisse im Port au Prince-Presseheft: „Annas Überzeugung, dass sich alles der Musik unterzuordnen hat, dass man kämpfen muss, dass nie etwas gut genug ist, nie fertig, setzt sie unter großen Druck. Dieser Druck steigert sich nach ihrem Versagen im Quintett, wenn sie ihren Schüler zu Höchstleistungen treibt. Es geht ihr um den Jungen, aber letztlich geht es ihr um sich selbst."
„Das Vorspiel“, erstausgestrahlt am 4. Februar 2022 auf Arte, ist naturgemäß auch ein Musikfilm. Das international renommierte Kuss Streichquartett, dass sich 1991 an der Berliner Musikhochschule „Hanns Eisler“ gegründet hat, ist in der Besetzung Jana Kuss und Oliver Wille (Violine), William Coleman (Viola) und Mikayel Hakhnazaryan (Violoncello) dabei. Nina Hoss, die selbst Klavier spielt, hat sich ihren Geigenpart im Film selbst angeeignet. Und beim Lied, mit dem sich Simon Abkarian als Philippe gleich am Anfang vorstellt, „Die Zeit der Kirschen“, handelt es sich um das berühmte Fanal der Pariser Commune. Ina Weisse: „Dass wir im Film oft hart aus den Musikstücken raus gehen, war im Schnitt früh angelegt und bestimmt den Rhythmus des ganzen Films.“
Pitt Herrmann