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Der Dokumentarfilm "Das Herz von Jenin" begleitet Ismael Khatib auf einer Reise durch Israel, die für den Palästinenser eine ganz besondere persönliche Bedeutung hat: Im Jahr 2005 wurde sein damals 12-jähriger Sohn Ahmed im Flüchtlingslager von Jenin tödlich verwundet – von Kugeln israelischer Soldaten. Direkt nach der Tragödie entscheidet Ismael Khatib, dass die Organe seines Sohnes israelischen Kindern gespendet werden sollen, um deren Leben zu retten. Zwei Jahre danach begibt Khatib sich auf eine Reise durch Israel, um jene Kinder zu besuchen, die mit den Organen seines Sohnes leben.
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Zu dieser ungewöhnlichen Mittagsstunde findet in Jenin eine Razzia der israelischen Armee statt, die eine solche normalerweise im Schutz der Nacht durchführt. Das Spielzeuggewehr wird von einem israelischen Soldaten für eine Kalaschnikow gehalten, seine Kugel trifft Ahmed in den Kopf und im Krankenhaus von Haifa können die Ärzte nur noch den Hirntod des Zwölfjährigen konstatieren.
Ein Pfleger spricht Ismael Khatib, den Vater des Jungen, auf die Möglichkeit einer Organspende an. Die Zeit drängt: Sechs israelische Kinder, die ohne Ahmeds Organe keine Überlebenschancen haben, darunter auch ein Mädchen aus einer jüdisch-orthodoxen Familie, sind schnell gefunden. Ismail und seine Gattin Abla sind einverstanden und nachdem auch der Imam von Jenin sowie der Chef der militanten Al-Aksa-Brigaden ihre Zustimmung gegeben haben, können die Operationen vorgenommen werden – die bis auf eine Ausnahme von Erfolg gekrönt sind.
Zwei Jahre später verspürt Ismael Khatib den Wunsch, „seine“ Kinder, in denen sein Sohn weiterlebt, kennenzulernen. Drei Empfängerfamilien möchten anonym bleiben, drei Kinder kann er besuchen, begleitet von einem befreundeten israelischen Palästinenser als Dolmetscher und dem deutsch-israelischen Filmteam. Die beschwerliche, immer wieder von Kontrollposten der israelischen Armee unterbrochene Reise wird auch für die beiden Dokumentaristen, den in den USA geborenen israelischen Regisseur Leon Geller und den gebürtigen Stuttgarter Marcus Vetter, zu einem emotionalen Trip in die Geschichte des unlösbar erscheinenden israelisch-palästinensischen Konfliktes.
Auf den langen Autofahrten erzählt Ismael Khatib, wie er 1984 im Zuge des ersten Intifada genannten Aufstandes der Palästinenser gegen die israelischen Besatzer erstmals in Gefängnis gesteckt wurde. Wie sein Vater nach den für beide Seiten blutigen Ereignissen des Jahres 1987 darauf gedrängt hatte, dass er sich von den Aufständischen fernhält, eine Familie gründet und sich eine eigene Existenz aufbaut. Mit einem Kleidergeschäft, das er bei der zweiten Intifada, die nach einem Selbstmordattentat 2001 in Tel Aviv ausbricht, ebenso verliert wie sein Auto – und damit die Grundlage für den Warenhandel.
Ismael Khatib eröffnet in einem anderen kleinen Ort eine Autowerkstatt, die aber vier Monate später wie alle Geschäfte von den Besatzungssoldaten zerstört wird. Ismael unternimmt dennoch einen weiteren Versuch, um mit einer Kfz-Werkstatt seine Familie zu ernähren, diesmal in einem Ort, den er nur über Schleichwege erreichen kann, weil die Israelis überall Checkpoints errichtet haben. Und dann kommt das Jahr 2002, in dem israelische Soldaten mit Panzern und Bulldozern in Jenin einmarschieren und willkürlich alles niederreißen. Seither ist es hier nicht mehr ruhig geblieben.
Und dennoch hat er das Leben von sechs israelischen Kindern gerettet, von denen er nun drei besuchen kann. Zunächst Samah, ein junges Mädchen, das aus einer Drusenfamilie stammt, die nahe der libanesischen Grenze im Norden lebt – dank des Herzens von Ahmed. Der kleine Mohammed ist Sohn eines Beduinen aus der Negev-Wüste und muss, seit er Ahmeds Niere erhalten hat, nicht mehr täglich zur Dialyse.
Letzte und problematischste Station ist Jerusalem, ist die ultra-orthodoxe jüdische Familie Levinson, in der die Mutter auch daheim ganz selbstverständlich Kopftuch trägt wie eine Araberin. Der Vater der kleinen, so zerbrechlich wirkenden Menuha, die ebenfalls mit einer Niere Ahmeds weiterleben kann, hatte sich lange geweigert, Ismael zu empfangen – und entschuldigt sich nun dafür. Aufrichtig, wie Ismaels Freund, der Dolmetscher, nicht müde wird zu bekunden. Um Ismael versöhnlicher zu stimmen, der trotz seiner zutiefst menschlichen Geste mit seiner Überzeugung, Palästina gehöre allein den Palästinensern, nicht hinterm Berg hält – gerade in Jerusalem nicht, einer ganz anderen Welt für jemanden, der aus dem Palästinenser-Ghetto Westjordanland kommt.
Und so ist für mich „Das Herz von Jenin“ alles andere als ein Hoffnungszeichen, sondern im Gegenteil Ausdruck tiefster Resignation. Von einer befreienden Reise kann überhaupt keine Rede sein: Ismael Khatib hat Herrn Levinson nichts zu sagen, und das gilt auch umgekehrt. Die geradezu gespenstisch anmutende Sprachlosigkeit, die dieser betont unspektakuläre Film, der sich überhaupt jeden Off-Kommentars enthält, geradezu herausbrüllt in den kleinen, rührenden Szenen der Begegnung des Vaters mit „seinen“ Kindern, die er vermutlich nur dieses eine Mal wird sehen können, ist Ausdruck einer Hilflosigkeit auf allen Seiten, die zu immer höheren Zäunen und Mauern, zu immer groteskeren Abschottungsversuchen – und zu immer blutigerer Gewalt und Gegengewalt führen wird.
Die Dokumentation soll im Juli 2008 auf dem Internationalen Filmfestival Jerusalem in Anwesenheit der Protagonisten uraufgeführt worden sein, dafür habe ich keinen Beleg gefunden, wohl aber für die Teilnahme am Locarno-Festival in der Schweiz am 13. August 2008. Für die Erstausstrahlung sorgte Arte am 21. Januar 2011.
Pitt Herrmann