Inhalt
Rafi arbeitet hart, um sich als Fotograf in Mumbai über Wasser zu halten. Mit anderen unverheirateten Männern teilt er sich eine einfache Unterkunft. Sein Geld schickt er in die Heimat, um die Schulden des Vaters zu begleichen, und träumt von einem besseren Leben. Eines Tages fotografiert er vor dem Gateway of India eine junge Frau, die ihm fortan nicht mehr aus dem Kopf geht. Miloni ist Vorzeigeschülerin einer Wirtschaftsprüferschule und soll die Universität besuchen – unvereinbare Welten. Als Rafis Großmutter anreist, die ihn unbedingt verheiraten will, willigt Miloni ein, sich als seine Freundin auszugeben. Die beiden treffen sich immer häufiger, Rafi zeigt der wohlbehüteten Miloni unbekannte Facetten ihrer Stadt.
Ritesh Batra, der mit seinem Debütfilm "The Lunchbox" für Furore sorgte, kehrt mit der bittersüßen Romanze zurück in seine Heimatstadt Mumbai. In ruhigen, stimmigen Bildern erzählt er beinahe beiläufig von der Trennung zwischen den sozialen Schichten und schafft ein sensibles Porträt des Alltags in der Megacity zwischen Tradition und Fortschritt.
Quelle: 69. Internationale Filmfestspiele Berlin (Katalog)
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„Sie werden später die Sonne auf ihrem Gesicht spüren“: Zusammen mit seinem Freund Zakir Bhai fotografiert Rafi mit seiner Nikon-Spiegelreflexkamera Touristen, Pärchen und Familien. Denen er mittels einer speziellen Entwicklerbox die Abzüge sofort mitgeben kann – gegen entsprechende Bezahlung versteht sich. Kein Job, der seiner Ausbildung entspricht, aber einer, mit der der als dunkelhäutiger Moslem in der hinduistisch geprägten Gesellschaft stigmatisierte Außenseiter sein Auskommen hat.
„Den ganzen Tag in einem Foto“: Als die junge, grazile Studentin Miloni aus dem überfüllten Fährboot steigt und sich elegant den Weg durch die Massen auf dem Vorplatz der Touristenattraktion bahnt, kann Rafi seinen Blick nicht von ihr wenden und verfolgt sie so hartnäckig, bis sie ein „Okay“ flüstert und ihm ein Foto abkauft. Das später in ihrer Klasse, sie bereitet sich auf das zweite Wirtschaftsprüfer-Examen vor, die Runde macht und – offenbar nicht nur aus erzieherischen Gründen – vom Lehrer konfisziert wird, der seine beste Schülerin auch privat in den Blick genommen hat.
Bei den Händlern im Basar und unter den Taxifahrern, die sämtlich aus der muslimisch geprägten Provinz Indiens stammen, wird die Nachricht kolportiert, Rafis Großmutter habe ihre Medikamente abgesetzt, weil ihr Enkel immer noch nicht auf Brautsuche gegangen sei. Um Dadi zu beruhigen, schickt er ihr das Bild der ihm bis dahin namentlich unbekannten Schönen, die er als seine Braut ausgibt. Zakir, der aus dem gleichen Dorf wie Rafi stammt und mit dem er auch seine primitive Matratzenlager-Behausung teilt, rät ihm, eine Familie zu gründen: „Verheiratet hast Du nachts wenigstens einen warmen Körper neben Dir.“
Weil die Schule mit dem Bild ihrer Vorzeigestudentin auf Plakaten wirbt, wartet Rafi vor dem Eingang des Gebäudes auf Miloni: seine Großmutter hat ihren Besuch ankündigt, um die Auserwählte kennenzulernen. Obwohl die hellhäutige, gleichermaßen Hindi und Englisch sprechende junge Hindu der aufstrebenden Mittelklasse angehört und ihr Vater bereits Anstalten macht, die nach dem Vorbild des Sohnes eines befreundeten Geschäftspartners zum Studium in die USA zu schicken, lässt sich Miloni darauf ein, gegenüber Dadi, die eine strapaziöse mehrtägige Bahnreise auf sich genommen hat, die Verlobte ihres Enkels zu spielen. Wofür sie eine neue Identität als muslimische Vollwaise Noorie, die in einer Frauenherberge wohnt, annimmt.
Die was auch die Rolle der Frau in Familie und Gesellschaft betrifft erzkonservative und dennoch selbstbewusste, ja bisweilen auch unerbittliche alte Frau imponiert Miloni, welche nicht nur in einem gutbürgerlichen Teil Mumbais lebt, sondern in einer völlig anderen Welt als Rafi: sie empfindet für den großen Familiensinn, auch den dörflichen, regionalen und religiösen Zusammenhalt einer von der Mehrheitsgesellschaft total ausgegrenzten Unterschicht große Sympathie. Unter Einschluss der eigenen, nachts auf dem Küchenboden schlafenden Hausangestellten Rampyaari, die zu Milonis Vertrauter wird in einem vergleichsweise kalten, rein erfolgsorientierten Elternhaus.
Miloni bekommt freilich auch mit, dass selbst in ihrer Gegenwart die Vorurteile gegen den dunkelhäutigen Paria bestehen bleiben, was sowohl für Taxifahrer gilt, die sich Rafi in Begleitung dieser jungen, attraktiven Frau nur als erfolgreichen Schauspieler vorstellen können, als auch für Milonis Lehrer, der ihn offener Straße beleidigt. Rafi nimmt alles mit äußerlicher Ruhe hin, denn: „Ihr Lächeln lässt alle Sorgen vergessen“. Er hat, wie seine Oma, die ganz selbstverständlich mitten unter den jungen Männern in der Gemeinschaftsunterkunft nächtigt, stolz bekundet, seinen beiden älteren Schwestern opulente Hochzeiten ausgerichtet – an Stelle des verstorbenen Vaters. „Wie eine Märchenprinzessin“ sei Miloni, schwärmt Dadi, und überreicht ihr den alten, wertvollen Familienschmuck: Fußkettchen, wie sie auch Rampyaari trägt.
Die sich allmählich entwickelnde Liebesgeschichte, in der es kaum einmal zu einer zarten Berührung der Hände kommt, kann die enormen Gegensätze der indischen Kasten- und Klassengesellschaft weder negieren noch gar überwinden. Weshalb Miloni alles dafür tut, Rafi vor ihrer Familie zu verheimlichen. Und es keine Rede davon ist, dass beide „eine neue Sicht sowohl auf das eigene als auch auf das Leben des Anderen“ bekommen, wie es der NFP-Pressetext behauptet: dieses Kennenlernen ist höchst einseitig auf Miloni bezogen.
Am Ende verlässt sie als Erste eine Filmvorstellung, in der es um eine ausweglose Liebe zwischen einem armen Kraftfahrzeugschlosser und einer höheren Tochter geht, vorzeitig: Sie kann das eigene, auf der Leinwand gespiegelte Elend nicht ertragen. Beide verlassen das Kino stumm, aber händchenhaltend...
Mit der warmherzigen Romanze „Photograph“ ist Ritesh Batra zu seinen Wurzeln und in seine Heimatstadt Mumbai zurückgekehrt. In bezaubernden, zart-bittersüßen Liebesgeschichte setzen sich die beiden Protagonisten über die Grenzen von Tradition und Moderne, von sozialer Schicht und Familie hinweg. „Ein Foto verändert ihr Leben für immer“ lautet der Untertitel eines Films, der in Umkehrung der kitschig-melodramatischen Bollywood-Produktionen, in denen die stets attraktiven Mädchen nichts anderes zu tun haben als die männlichen Helden anzuhimmeln, einen realistischen Blick auf eine allmählich im Wandel befindliche indische Gesellschaft offenbart. Und dabei gleichzeitig märchenhafte Züge aufweist, wenn etwa Rafi sich vom Geist eines Toten raten lässt, sich selbständig zu machen und er tatsächlich die Bruchbude ausfindig macht, in der ein inzwischen greiser Mann die einst so erfolgreiche, dann aber von den bekannten US-Marken verdrängte indische Campa Cola in Kleinstauflage abfüllt – Milonis Lieblingsgetränk aus Kindertagen.
Pitt Herrmann