Wholetrain

Deutschland 2004-2006 Spielfilm

Wholetrain

Grandiose Liebeserklärung an die Graffiti-Szene



Jürgen Ziemer, epd Film, Nr. 10, 2006

Was für ein wilder und kompromissloser Film. Seit Sylke Enders Kroko wurden Jugendliche auf der Kippe zwischen Keller-Disco und Jugendstrafvollzug nicht mehr so authentisch und liebevoll porträtiert. Es geht um Graffiti-Sprayer, eine Subkultur, die von vermeintlichen Durchblickern gerne mal als Relikt der Achtzigerjahre belächelt wird. Dabei braucht man bloß durch die Stadt zu gehen, um die Relevanz dieser Street-Art zu erkennen. Nicht jedermanns Sache, klar. Doch der Regisseur Florian Gaag war früher selber mit Sprühdose und Edding als "Writer" unterwegs.

Vielleicht sind die vier Freunde der KSB-Crew, von denen er erzählt, deshalb so glaubwürdig geraten. David (Mike Adler) hat wegen seiner nächtlichen Sprühleidenschaft gerade ein halbes Jahr auf Bewährung bekommen. Kein Grund, nicht am gleichen Abend mit Elyas (Elyas M"Barek) und dem chaotischen Heißsporn Tino (Florian Renner) einen S-Bahn-Wagen zu besprühen. Am nächsten Tag trifft sich das Quartett, zu dem auch Bürgersohn Achim (Jakob Matschenz) gehört, an einem Bahnhof, um das Bild in voller Fahrt zu erleben. Doch ein anderer Zug gleitet aus dem Tunnel. Wie ein mit außerirdischen Zeichen und Wesen besprühtes Ufo steht er plötzlich da, leuchtet in bizarren Farben, ist wahrhaftig ein Stück Kunst im Alltag. Darum geht es also: die Eroberung des urbanen Raums, Spuren hinterlassen, Sichtbarwerden. Zum Ärger der Helden wurde der psychedelische S-Bahn-Waggon von der rivalisierenden ATL-Crew besprüht. "Euer Style war schon vor zwei Jahren alt", ätzt der Anführer höhnisch. Davids Truppe beschließt, dass es auf diese Provokation nur eine Antwort geben kann: Einen "Wholetrain", einen Zug, der von Anfang bis Ende mit Graffiti besprüht wird.

Florian Gaag versucht glücklicherweise nicht, seine Figuren als Künstlertypen darzustellen, die irgendwann ihren Weg machen werden. Eher sind es ewige Verlierer, die permanent Ärger mit der Polizei haben, ihr Leben partout nicht in den Griff bekommen – Graffiti und ihre Freundschaft, das ist alles, was sie haben. Tino schafft es nicht einmal, seinem Kind Windeln anzulegen, und wenn die Jungs gemeinsam schwarzfahren, beschmieren sie mit ihren Tags die Fenster und Sitze im Zug so selbstverständlich, als ginge es dabei um eine freundliche Dekoration. Diese Menschen sind echt, so echt wie nur ganz selten im Kino.

Als Tino bei einem tragischen Unfall stirbt, glaubt David, er müsse nun sein Leben ändern. Auf Anraten seines Bewährungshelfers zeigt er einige seiner Bilder einem Kunstdozenten. Der betrachtet sie wohlwollend, spricht akademisch über Licht und Schatten. Doch David spürt das Unverständnis, die Distanz zwischen Galerie und Straße. Er rennt davon, entscheidet sich endgültig für das Leben als kreativer Outlaw. "Wholetrain" erzählt seine Geschichte unmittelbar und parteiisch. Die atemlosen Bilder, die überzeugenden Schauspieler und die ebenfalls von Florian Gaag stammenden Rap-Stücke erinnern an den – ebenfalls mit Fördergeldern des ZDF und der Redaktion Das kleine Fernsehspiel gedrehten – HipHop-Klassiker Wild Style. Graffiti ist in beiden Filmen ein völlig selbstverständlicher Teil dieser vitalsten aller Subkulturen, die es Jugendlichen ermöglicht, Würde und Respekt zu erfahren, auch als Hartz-IV-Empfänger. Dass "Wholetrain" in New York, dort wo Graffiti begann, Ende Juni als bester Spielfilm beim VIBE Urbanworld Film Festival ausgezeichnet wurde, zeugt von der Klasse dieses phänomenalen Debüts.

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