In weiter Ferne, so nah!

Deutschland USA 1992/1993 Spielfilm

In weiter Ferne, so nah!



Frank Schnelle, epd Film, Nr. 9, September 1993


"Fortsetzung folgt": In einem Film von, sagen wir Robert Zemeckis darf, ja muß man eine solche Ankündigung wörtlich nehmen. Als Wim Wenders 1987 die Zuschauer mit diesem Hinweis aus dem Kino entließ, löste er allenfalls leises Schmunzeln aus. Ein sequel zum "Himmel über Berlin"? Doch wohl eher in der Phantasie des Publikums (oder in der des Regisseurs) als tatsächlich auf Zelluloid!

Wenders räumt ein, daß das damals nicht ganz ernst gemeint gewesen sei. Nun aber gab es zwei Gründe, das "Versprechen" doch noch einzulösen: zum einen hat sich Berlin in Windeseile in eine neue, andere Stadt verwandelt, zum anderen war es an der Zeit, Otto Sanders Engel Cassiel endlich von der Siegessäule herunterzuholen, von wo aus er – in weiter Ferne, so nah – all die Jahre über die Geschicke der Erdenbürger wachte.

Furios gestaltet Wenders den Auftakt, wenn er die Kamera die subjektive Perspektive Cassiels einnehmen und sie tatsächlich von der Siegessäule herunterfliegen läßt. Auch danach bleibt der Film, für eine Dreiviertelstunde, ein Fest fürs Auge. Mit Cassiel streifen wir durch das wiedervereinigte Berlin, schauen mal in dieses Haus und mal in jenen Winkel, lauschen hier einem Gespräch und dort ein paar Gedanken. Eine Geschichte will sich nicht so recht entwickeln während dieser "Exposition", so zusammenhanglos scheinen die Ereignisse nebeneinander zu stehen. Dennoch vermißt man nichts: weil es so unglaublich viel zu sehen und zu entdecken gibt, und weil Wenders" Inszenierung mit ihren eleganten, gelegentlich atemberaubenden Kameraoperationen das Nebeneinander, Miteinander und Übereinander dieser Stadt zu einem prächtigen Gesellschaftspanorama verknüpft.

Vieles daran erinnert natürlich an den "Himmel über Berlin" (wenngleich man Wenders bescheinigen kann, daß er sich hier selbst übertroffen hat). Leider kommt "In weiter Ferne, so nah!" um eine zweite Parallele nicht herum: Auch Cassiels Tage in der Unendlichkeit sind gezählt. Er rettet einem kleinen Mädchen das Leben und opfert dafür seine Engelsexistenz. So kommt Farbe in die Bilder – und Wenders beginnt nun, die Stile und Stimmungen durcheinander zu wirbeln. Und plötzlich fügen sich die vielen kleinen Versatzstücke, die wir zuvor gemeinsam mit Cassiel beobachten durften, zu einem Ganzen, wenn auch zu keiner wirklichen Einheit.


Irgendwie hängen sie alle zusammen: der amerikanische Geschäftsmann Baker (Horst Buchholz), die Mutter des Mädchens, das Cassiel rettete (Monika Hansen), der Detektiv Phillip Winter (Rüdiger Vogler), der alte Konrad (Heinz Rühmann) und noch ein paar andere. Wenders läßt Cassiel den Verbindungen und Verstrickungen zwischen diesen Personen nachspüren, aber damit begnügt er sich nicht. Er zeigt auch, wie Cassiel sich – zunächst freudig-staunend, dann mehr schlecht als recht – mit den Gegebenheiten der menschlichen Existenz arrangiert; wie er seinem ehemaligen Mitstreiter Damiel (Bruno Ganz) und dessen Freundin Marion (Solveig Dommartin) begegnet; wie er sich mit einem immer wieder aus dem Nichts auftauchenden bedrohlichen Zeitgenossen namens Emit Flesti (Willem Dafoe) herumschlägt; und wie er außerdem noch Größen aus Musik und Fernsehen wie Lou Reed oder Peter Falk über den Weg läuft und zwischendurch mit dem (für ihn unsichtbaren) Engel Raphaela (Nastassja Kinski) Zwiesprache hält.

Das große Paradoxon des Films: Einerseits scheint Wenders sich mit Händen und Füßen dagegen zu sträuben, so etwas wie eine Geschichte zu erzählen. Andererseits montiert er eine Vielzahl von Schicksalen und Episoden zu einem Monstrum von einer Geschichte. Einerseits wettert er gegen die verführerische Macht der Bilder. Andererseits betreibt er ja nichts anderes, als mit Bildern zu verführen – auch wenn sie nicht so gewalttätig und zerstörerisch sein mögen wie das Kino, das er verurteilt. Wenders filmt gegen das Filmen an; er ist das klassische Beispiel für den Mann, der den Ast absägt, auf dem er sitzt. Nun ist er – vermutlich endgültig – abgestürzt.

Wer den Geschichten nicht traut, der gibt sich auch keine Mühe, den Anforderungen des Geschichtenerzählens gerecht zu werden. Wenders kümmert sich nicht um die Grundpfeiler des Genrekinos, um äußere Motivationen und innere Plausibilität. Er baut nichts auf, er läßt es einfach passieren.


Ein Beispiel. Da beginnt eine Szene damit, daß der schurkische Baker von ein paar bewaffneten Gangstern in Schach gehalten wird. Er steht in einem mit flüssigem Zement gefüllten Eimer am Ufer eines Flusses, Cassiel ist an seiner Seite. Wenders sagt uns nicht, wer die Gangster sind und woher sie kommen (wir haben sie zuvor nicht gesehen), und er hat die Bedrohung auch mit keiner einzigen Einstellung angekündigt oder vorbereitet. Und damit nicht genug: Das Geschehen wirkt absurd nicht nur, weil es so unvermittelt einsetzt, sondern auch, weil Wenders (hier) zwar einerseits mit dem Inventar des Gangsterfilms arbeitet – die Waffen, die finsteren Gestalten, die tödliche Bedrohung —, andererseits aber alles tut, um jede Spannung aus der Situation herauszunehmen. Steif und ungelenk inszeniert er die Konfrontation, und Cassiels heroische Rettungstat wirkt so absurd wie die Action in einem schlechten Fernsehkrimi.

Möglicherweise hat Wenders die Szene auch parodistisch gemeint, das weiß man in diesem Film nie so genau. (Der Gerechtigkeit halber muß erwähnt werden, daß Wenders den Film nach der Aufführung in Cannes um rund eine halbe Stunde gekürzt hat; das entschuldigt jedoch nichts, denn falls dadurch tatsächlich wichtige Informationen abhanden gekommen sein sollten, wäre der Regisseur für die Verstümmelung ja selbst verantwortlich. Man weiß auch nie so genau, was Wenders überhaupt im Sinn hatte bei diesem Projekt. Erkennbar ist natürlich der Versuch, so ziemlich alles irgendwie zusammenzufassen: die deutsche Filmgeschichte (Schauspieler aller Generationen), die Stilmittel des Kinos (von Schwarzweiß zur Farbe, vom Dokument zur Fiktion, von Genre zu Genre usw.), das Wenderssche Œ uvre (die Darsteller, die Themen, die erzählerischen Motive). So wirkt alles künstlich und bemüht: Als hake einer den Katalog seiner persönlichen Obsessionen ab, und das vollkommen leidenschaftslos.

Die meisten Darsteller haben kaum mehr zu tun, als sich zu präsentieren – der Film stellt sie aus wie zu Beginn den Expolitiker Michail Gorbatschow, der aus unerfindlichen Gründen an einem Berliner Schreibtisch über Poesie nachsinnen darf. Peter Falk, Nastassja Kinski, Solveig Dommartin, Lou Reed und selbst Bruno Ganz: als Figuren kommt ihnen praktisch keine Bedeutung zu.

Geradezu enervierend ist Wenders" selbstverliebtes Spiel mit den inside jokes. Dafoes Todesengel heißt Emit Flesti – rückwärts für "Time Itself". Und auf dem Rettungsring eines Schiffes steht, kaum zu glauben, "Alekahn". Wie sehr dieses Spiel nach hinten losgehen kann, zeigt das Schicksal von Rüdiger Voglers Phillip Winter, dem Helden aus "Alice in den Städten". Er arbeitet nun als Privatdetektiv und muß im Lauf der Geschichte sterben. Macht nichts: In sechs Jahren tritt er, auf wundersame Weise wiederbelebt, eine Reise "Bis ans Ende der Welt" an.

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