Die Geschichte vom weinenden Kamel

Deutschland 2002/2003 Dokumentarfilm

Die Geschichte vom weinenden Kamel

Doku-Märchen über ein weißes Kamel


Michael Ranze, epd Film, Nr.1, 02.01.2004

Irgendwo im Süden der Mongolei, am Rande der Wüste Gobi. Hirtennomaden haben in dieser unwirtlichen Gegend ihre wenigen Zelte aufgeschlagen, leben unter einfachsten Bedingungen. Vier Generationen unter einem Dach. Kein Strom, kein Fernseher, kein Telefon. Einzig ein winziges Radio mit Wurfantenne stört ein wenig die Stille und sorgt für Zerstreuung – bis die Batterien ihren Geist aufgeben. Fast alle trächtigen Kamelkühe haben bereits gekalbt, nur eine steht noch aus. Und nun wird der Zuschauer Zeuge einer langen und schweren Geburt. Zittrig steht das weiße Kalb schon kurz darauf auf seinen ungeübten Beinen, sucht angestrengt die Zitzen der Mutter. Doch fast scheint es, als sei das kleine Kamel durch seine ungewöhnliche Farbe zum Aussätzigen gestempelt: Ruppig stößt die Mutter ihr Junges zur Seite. Da helfen keine Gewalt und keine guten Worte. Bis sich die Hirtennomaden eines alten Brauchs erinnern. Sie schicken einen heranwachsenden Jungen und seinen kleinen Bruder in die ferne Stadt, um einen Musiker herbei zu rufen. Das Unglaubliche geschieht: Die Klänge der Geige rühren die Kamelmutter zu Tränen, das Junge darf endlich säugen.

Ein Märchen? Ein Dokumentarfilm? Die Mongolin Byambasuren Davaa und der Italiener Luigi Falorni haben mit ihrem Abschlussfilm für die HFF München bewusst die Grenzen der Genres überschritten. Zuweilen hat man gar nicht den Eindruck, einen Dokumentarfilm zu verfolgen, obwohl zufällige Beobachtungen – alltägliche Verrichtungen wie Teekochen, zwischenmenschliche Begegnungen, das Spiel mit den Kindern, die Arbeit mit den Tieren – ständig darauf verweisen.

Die Filmemacher hatten anderes im Sinn. Sie wollten nicht nur soziale Wirklichkeit einfangen, sondern auch eine Geschichte erzählen. In ihrem Bemühen, das Beobachtete in einen narrativen Kontext einzubinden, haben sie darum ein wenig nachgeholfen. Ereignisse, die sich bei abgeschalteter Kamera zutrugen, wurden nachinszeniert, um dem Film eine schlüssige Dramaturgie zu verleihen und den Spannungsbogen zu erhalten. Manche Begebenheit, so muss man annehmen, trug sich nur deshalb zu, weil die Kamera zuschaute. Die Nomaden sind also immer auch ein wenig Schauspieler, die ihren Alltag nachstellen und somit interpretieren. Eingefleischte Dokumentarfilm-Puristen mag es dabei grausen, doch der Erfolg gibt den Filmemachern Recht: Die "Geschichte vom weinenden Kamel" ist ebenso spannend wie anrührend, ebenso aufschlussreich wie originell. Manchmal fühlt man sich an Nikita Michalkows "Urga" erinnert, der ebenfalls durch seine einfache, poetische Geschichte und die atemberaubenden Landschaftsaufnahmen beeindruckte, dabei immer auch dem Alltag der Menschen nachspürte.

Wenn am Schluss der kleine Junge endlich seinen heiß ersehnten Fernseher bekommen hat und eine Satellitenschüssel das Zelt ziert, überkommt den Zuschauer so etwas wie Wehmut. Die Mongolei, die im Laufe des Films so idyllisch anmutete, hat sich ein wenig verändert. Mit dem Einzug der Moderne hat sie ein kleines Stück von ihrem Geheimnis verloren.

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