Viehjud Levi

Deutschland Schweiz Österreich 1998/1999 Spielfilm

Viehjud Levi


Horst Peter Koll, filmdienst, Nr. 20, 28.09.1999

Gerade mal etwas mehr als 20 Seiten umfasst Thomas Strittmatters erstes Bühnenstück, das Ende 1982 seine Erstaufführung in Stuttgart erlebte. Die Fabel um den jüdischen Viehhändler Benjamin Levi verstand der 20-jährige Strittmatter als Reflexion über seinen Begriff von Heimat, wobei er die in seiner Kindheit aufgeschnappten Erzählfetzen um die authentische Figur des von den Schwarzwald-Bauern „Viehjud Levi“ genannten Händlers mit Bildern und Handlungen seiner Fantasie vermischte. Strittmatter starb 1995 im Alter von 34 Jahren; für Didi Danquart war die Verfilmung von „Viehjud Levi“ auch der Versuch, sich von einem Freund und engen Vertrauten in Würde zu verabschieden, „indem ich mich intensiv mit seiner Sprache beschäftigt und sie in meine Filmsprache übersetzt habe“.

Die fragmentarischen Splitter der Bühnenhandlung wurden von Danquart einfühlsam zu einem intensiven erzählerischen Fluss ausgebaut, wobei die spröde, kantige und doch so prägnante Dialogsprache ebenso erhalten blieb wie der Kern der Fabel. Benjamin Levi kehrt wie jedes Jahr in das einsame Tal im Schwarzwald zurück, um seine Geschäfte mit den Bauern zu tätigen, aber auch, um um Lisbeth, die Tochter des Horgerbauern, zu werben. „Bist kein Kind mehr“, stellt er erstaunt fest, „in Wirklichkeit noch hübscher als in Gedanken.“

Ansonsten aber hat sich die Wirklichkeit nicht zu ihrem Besseren gewandelt: Man schreibt das Jahr 1933, Arbeiter der Reichsbahn sind unter Leitung des Ingenieurs Kohler aus Berlin angereist, um einen eingestürzten Eisenbahntunnel zu reparieren. Sie bringen nicht nur die Kaufkraft der Großstadt mit in die verschlafene Region, sondern auch die Ideologie der Nazis, die sich zunächst noch im großspurigen und arroganten Auftreten der Ankömmlinge äußert. Zunehmend hilfloser verharren die einfachen Bewohner der Region erstaunt, ahnungs- und verständnislos und schließlich resignierend vor dem neuen „Herrenmenschen“-Typus, der ihnen neue wirtschaftliche Abhängigkeiten, aber auch die neue Ideologie aufzwingt.

Paul, großstadterfahrener Zyniker und Rivale Levis um die Gunst Lisbeths, treibt seine provokanten Spielchen mit den „Herren“, bis er ihre Bereitschaft zur körperlichen Gewalt handfest zu spüren bekommt; der Horgerbauer buhlt um sie als Geschäftspartner, um schließlich fallen gelassen zu werden wie eine heiße Kartoffel; immer dramatischer focussiert sich alles auf Benjamin Levi, für die einen die Zielscheibe ihres rassistischen Hasses, für die anderen das bequeme Bauernopfer, das instinktiv für alle erlittenen Enttäuschungen und Niederlagen herhalten soll, auch wenn das Gewissen dabei Schaden nehmen wird.

Eine Landschaft verliert ihre Unschuld, und mit ihr ihre Bewohner. An der archaischen Welt der dunklen Wälder und rauen Täler kann sich in aller Naivität irgendwann nur noch Levi erfreuen, der die Gefahr, die im droht, weder verstehen kann noch will. Für ihn besteht der Fortschritt eben nicht im Volksempfänger, der die Gaststube mit dem neuen Gedankengut füllt, sondern im Holzvergaser seines kleinen Lastautos, das mitten im Schwarzwald wie die Made im Speck zu sitzen scheint. Immer wieder schieben sich solch metaphorisch aufgeladene Sinnbilder mit Prägnanz und Wucht über die einfache, lehrstückhaft konstruierte Fabel, die weit weniger ein weiteres Mal vom Schicksal eines Juden zur Zeit des Nationalsozialismus erzählt als von der ungebrochen aktuellen Mechanik der Ausgrenzung eines Menschen durch die Menschen handelt.

Für Strittmatter hatte sich der Mensch in den letzten 50 Jahren nicht entscheidend verändert: „Unter ökonomischem Druck relativieren sich plötzlich moralische und humane Werte. Eigentlich eine große Banalität.“ Zugleich aber auch eine Erkenntnis von erschütternder Universalität, die nichts von ihrer Brisanz verloren hat. Danquart konstruiert antipodisch eingesetzte Szenenfolgen um den Gegensatz des Fremden und des Eigenen, wobei am Ende nur Levi und Lisbeth ihr Eigenes bewahrt haben und im offen bleibenden Ende ihr Leben aufs Spiel gesetzt sehen. Nur wenige Dialogsätze, nur wenige Blicke und Gesten bleiben den vorzüglichen Darstellern, um die immer spannungsreicher werdenden Beziehungen der Figuren untereinander zu verdeutlichen; aber gerade hier zeigt sich, wie konsequent und mit welch großer Sensibilität Danquart sein subtiles Spiel mit den leisen Zwischentönen aufzufächern versteht: Höchst intensiv vermittelt sich der seelische Druck des Horgerbauern, der zur „staatlichen“ Seite hin katzbuckelt, während sich sein Gefühl des In-die-Enge-getrieben-seins in ersten impulsiven Ausbrüchen körperlicher Gewalt entlädt; seine Frau, still geworden und in sich gekehrt, schminkt sich heimlich die Lippen mit dem verpönten Geschenk, das Levi ihrer Tochter Lisbeth machte, und in wenigen Sekunden spiegelt sich in ihrem Gesicht eine ganze Ausdruckspalette zwischen Sehnsucht und Seelenschmerz angesichts eines verpassten „anderen“ Daseins.

Nicht minder prägnant vermitteln sich ihnen gegenüber jene „neuen“ Menschen, die gar nicht so sehr von der Nazi-Ideologie besessen erscheinen als diese vielmehr für die Verwirklichung ihrer eigenen Ambitionen einsetzen: Ingenieur Kohler spielt genüsslich seine karrieristischen Eitelkeiten aus, während seine Geliebte den nicht minder gefährlichen Charme ihrer erotischen „Macht“ über die Menschen ausbreitet.

Alle sind Rädchen in einem tragisch versponnenen Geflecht, das auf beklemmende Weise seine Eigengesetzlichkeiten entwickelt. Um diese zu entdecken und zu ergründen, muss der Betrachter nicht auf spektakuläre dramatische Einfälle warten, sondern in den Gesichtern und den Gesten der Personen „lesen“.

Das „Ungeheuerliche“, das auf sie zukommt, deutet sich indes eindringlich im Kleinen an: Während der Nazi-Ingenieur als Zauberer und Verführer (wenig erfolgreich) mit dem Hasen des Horgerbauern jongliert, kniet Levi am Ende weinend vor einem blutdurchtränkten Sack, aus dem die Leiche seines eigenen Hasens fällt – ein Vorbote, eine schreckliche Ahnung zukünftigen Mordens. Im Gegensatz zu Strittmatter erspart Danquart dem Zuschauer die unausweichlich scheinende finale Katastrophe und setzt demonstrativ und wider besseren Wissens ans Ende einen Hoffnungsfunken, der Liebe und Zivilcourage über den dumpfen Sumpf der Resignation, zumindest kurzzeitig, triumphieren lässt. Und ganz zum Schluss sieht man die roten Schlusslichter von Levis Auto in der Nacht verschwinden – Flucht vor dem Unausweichlichen, aber auch Aufbruch ins Ungewisse, mit dem man als Zuschauer gerne – und vielleicht auch wieder besseren Wissens – die Hoffnung auf bessere Zeiten verbinden möchte.

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