Dirnentragödie

Deutschland 1927 Spielfilm

Ein neuer Asta Nielsen-Film


Siegfried Kracauer, Frankfurter Zeitung (Stadt-Blatt), 4.5.1927


Im Capitol-Palast wird "Dirnentragödie", der jüngste Asta Nielsen-Film gezeigt. Die Nielsen ist, immer noch, eine große Künstlerin, aber ihr Sujet ist veraltet. Sie spielt die Dirne, die sie oft gespielt hat, und bewegt sich in einer Freudengasse, die von einer nicht mehr zeitgenössischen Literatur erschöpfend abgewandelt worden ist. Das weist in die Strindberg-Zeit zurück und hat als soziales Faktum seinen Vorrang unter anderen ebenso traurigen sozialen Fakten verloren. Immerhin ragt die Nielsen aus dem Milieu heraus, und wenn sie auch neue Nuancen nicht beibringt, so beherrscht sie doch die von ihr gewohnten meisterlich. Sie ist eine alte Dirne, die sich in einen zugelaufenen Studenten verliebt, der im übrigen ein widerwärtiger Jüngling ist. Eine jüngere Kollegin schlägt sie dann mit Leichtigkeit aus dem Feld. Sehr schön vollzieht sich der Übergang aus dem Dirnenhaften in die Scheu des liebenden Mädchens. Noch tiefer fast greift die Darstellung der Enttäuschung. Die Züge verfallen, das Leid entspannt sie zur Totenmaske. Ein menschliches Wissen, das sich nur selten mitteilt, gibt sich in diesem Wandel kund. Der Zuhälter Homolkas ist der Nielsen ebenbürtig. Er ist ein unübertreffliches Gemisch aus Gemeinheit, dumpfer Treue und Infantilität. Für das Gelingen dieser Leistung spricht, daß die Figur sich eine gewisse Sympathie zu bewahren versteht. Die Regie beschwört unter Anlehnung an ältere Vorbilder mit unbestreitbarer Einfühlungsgabe die düstere Stimmung herauf. Die Architektur ist zu merklich gestellt. Vorzüglich ausgewertet eine Szene, in der eine Begegnung auf der Straße durch das Schreiten von Beinen veranschaulicht wird. Unnötig wäre die phantastische Schrift der Titel gewesen.

Siegfried Kracauer: Werke. Band 6. Kleine Schriften zum Film. Herausgegeben von Inka Mülder-Bach. Unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel und Sabine Biebl. 3 Teilbände. © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. Alle Rechte vorbehalten. Verwendung mit freundlicher Genehmigung.

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