Hälfte des Lebens

DDR 1984/1985 Spielfilm

Halber Hölderlin


Heinz Kersten, Frankfurter Rundschau, 6.8.1985


Herrmann Zschoche gehört zu den produktivsten Babelsberger Regisseuren. Bekannt wurde er durch engagierte DDR-Gegenwartsfilme, von denen bei uns zuletzt "Bürgschaft für ein Jahr" ins Kino und auf den Bildschirm kam. Jetzt hat sich Zschoche zum ersten Mal an einem historischen Stoff versucht, unterzog sich der stets heiklen Aufgabe, aus seiner Gestalt der Literaturgeschichte einen Leinwandhelden zu machen.

(…) Christa Kożik wollte bewußt eine romantische Liebesgeschichte schreiben, und Herrmann Zschoche ist das Kunststück gelungen, dies auch genauso inszeniert zu haben, ohne dabei je in Kitsch abzugleiten, was hier gefährlich nahelag. Auch der soziale und politische Hintergrund ist zumindest angedeutet.

Erzählt werden die zehn entscheidenden Jahre im Leben Hölderlins von 1796 bis 1806: Vom Antritt der Hofmeisterstelle im Hause des Frankfurter Bankiers Jakob Gontard bis zur Einweisung in eine Tübinger Nervenklinik. Was deutsche Hochschullehrer früher höchst nebulös immer als Hölderlins Diotima-Erlebnis rein platonisch und literarisch interpretierten, gewinnt jetzt auf der Leinwand ganz konkret und sinnlich erotische Gestalt als eine leidenschaftliche Liebe. Die Qualen der Heimlichkeit dieser Liebe werden ebenso nachfühlbar wie die Demütigungen, denen Hölderlin durch den kühlen Businessman Gontard (sehr zurückhaltend charakterisiert von Michael Gwisdek) ausgesetzt ist und die ihn schließlich aus dem Hause treiben.


Ulrich Mühe vom Ostberliner Deutschen Theater und Jenny Gröllmann vom Maxim-Gorki-Theater sind ein ideales Liebespaar. In seinem Leinwanddebüt macht Mühe überzeugend die ganze Zerrissenheit des Dichters deutlich: Am Anfang noch literarische und politische Enttäuschungen überwindend durch die Liebe Susettes, nach der Trennung immer mehr nervlicher und geistiger Zerrüttung verfallend. Die Einbeziehung von Zitaten aus Hölderlins Briefen und Dichtungen verleiht dem Film Authentizität. Die Kamera Günter Jaeuthes dient mit schönen Bildern genauer Stimmungsmalerei. Nebel, Regen, Vergehen in der Natur dominieren über Blüten und Grün, die den seltenen Glücksmomenten vorbehalten sind.

"Hälfte des Lebens": Der einem Hölderlin-Gedicht entnommene Titel des Films steht nicht nur für das Alter des Dichters, der mit 36 Jahren in eine Nervenklinik eingeliefert wurde und danach noch 36 Jahre in der Obhut des Tischlerehepaares Zimmer lebte – symbolisch gemeint ist damit auch, daß sich Hölderlin als Poet, Liebender und Revolutionär immer nur mit Halbem begnügen mußte. Er selbst spricht auch einmal von einer griechischen Legende, wonach der Mensch von den Göttern in zwei Hälften geteilt wurde und nun seine zweite Hälfte suchen muß, um vollkommen zu sein – Metapher für die Liebe zwischen Hölderlin und Susette.

Wenn da auch gewiß nicht der ganze Hölderlin ins Kino gekommen ist – filmisch muß man sich nicht mit Halbem begnügen. "Hälfte des Lebens" scheint in der DDR auch ein ganzer Publikumserfolg zu werden. Und da Gefühl ja wieder "in" ist: Hier wäre eine Leinwand-Love-Story für ganz Deutschland, noch dazu mit Anregung zu literarischer Weiterbildung. In der DDR wurde ein Insel-Bändchen mit Hölderlin-Gedichten nach Anlaufen des Films zum Bestseller.

© Heinz Kersten

Rechtsstatus