Wege zu Kraft und Schönheit

Deutschland 1924/1925 Dokumentarfilm mit Spielhandlung

Wege zu Kraft und Schönheit



Siegfried Kracauer, Frankfurter Zeitung (Stadt-Blatt), 21.5.1925


Der neue Film der Ufa: "Wege zu Kraft und Schönheit", der jetzt auch in den Frankfurter Ufa-Lichtspielen zur Aufführung gelangt, ist der modernen Körperkultur gewidmet. Er veranschaulicht in einer bisher noch nicht gesehenen Fülle der Bilder und Einzelszenen alle Bestrebungen unserer Zeit, die auf die Pflege des Leibes, seine Gesundung, seine schöne Bewegung gerichtet sind. Indem er aber die Zusammenschau des auf diesem Gebiete in allen Ländern heute Geleisteten gibt, erfüllt er zugleich eine Mission als Werbefilm großen Stils. Den vielen, die noch abseits stehen, mag er die Bedeutung des wohlgebauten Körpers, den nicht nur körperlichen Sinn des richtig verstandenen Sports erschließen, er mag die Lust zur Nacheiferung erwecken und so für seinen Teil mithelfen an der Heranbildung eines mit leiblichen Tugenden gesegneten Geschlechts. Der nackte Mensch steht, wie es nicht anders sei kann, im Mittelpunkt dieses Films. Der nackte, nicht der ausgekleidete. Der ungezwungen und rhythmisch sich bewegende, dem die Gelöstheit der Glieder eine Selbstverständlichkeit ist, nicht der seines Körpers ungewohnte, der von den ihm verliehenen körperlichen Gaben keinen Gebrauch zu machen weiß. Damit entfallen von vornherein jene Bedenken, an denen man es von mancher Seite dem Film gegenüber nicht hat fehlen lassen. An der Hingabe, mit der die nackten Gestalten im freien Gelände sich üben, wird ein jedes Begehren, das nicht der Sache gilt, zu Schanden, das Bild bleibt Bild und erhält sich in der ihm gemäßen Distanz, und nur die Freude über Spiel, Gewandtheit und Rhythmik kommt auf. Es ist daher durchaus berechtigt, ja geboten sogar, daß die Besichtigung des Films auch den Jugendlichen gestattet worden ist.

Welch eine Mannigfaltigkeit von Tätigkeiten und Zuständlichkeiten der Begriff Körperkultur umfaßt, wird im Film – drastisch mitunter – offenbar. Gut gewählte Gegenbeispiele und Einblicke in die Physis belehren auch den Verstockten über die Notwendigkeit der Leibespflege: man sieht etwa einen ungeübten Fünfzigjährigen daherschwanken, der ein alter Mann im Vergleich mit dem sportgeübten Sechziger ist, oder erhält Aufklärung über die schädlichen Folgen falscher Atmung und sitzender Lebensweise. Diese Dinge sind bekannt, doch es ist etwas anderes, ob man nur um sie weiß, oder ob man sie durch die Anschauung unmittelbar erfährt.


Von der Folie solcher abschreckenden Bilder heben sich die Beispiele richtiger Körpererziehung nur um so wirksamer ab. Schon im Säuglingsalter nahezu beginnt heute die gymnastische Ausbildung. Der Film vergegenwärtigt die mit dem kleinen Kinde getriebenen Übungen, er führt die Kurse der Heranwachsenden vor Augen und unterrichtet so im Abriß über die Methoden, die das Gedeihen des gesunden Körpers zu fördern vermögen.

Dessen Geschmeidigkeit und Schönheit wird in zunehmendem Maße durch die rhythmische Gymnastik erhalten, die, nach Schulen geordnet, breite Berücksichtigung findet. Die wundervollen Bewegungs-Gebilde, die das System der Amerikanerin Mensendieck erzielt, die von Bode gelehrten Spannungs- und Entspannungsstudien, die sakralen Schritte der Wigman-Schule, die Übungen des Labankreises und der Loheländer: sie alle ziehen auf der Leinwand vorüber. Wie verschieden auch ihre Verfahrensarten seien: in der Bemühung um den ebenmäßigen Körper stimmen sie überein. Gar manche Aufnahme bestätigt, daß sie ihr Ziel erreichen.

In dem Tanz gibt der durchseelte Leib sich die Form. Als vollendetem Ausdruck körperlicher Kultur gewährt ihm denn auch der Film den gebührenden Raum. Von dem japanischen Möwentanz an bis zum bayrischen Schuhplattler gelangen die Tänze der Völker zur Darstellung, denen Proben des Einzeltanzes sich beigesellen. Die Karsavina exzelliert mit unvergleichbarer Grazie in der hohen Schule des Spitzenschritts, und Niddy Impekoven entfaltet in zwei Charakterstudien ihre tänzerische Natur, die ihre Bindungen in sich selber findet.

Daß in diesem optischen Compendium der Sport nicht fehlt, versteht sich von selbst. Alle seine Arten und Abarten hierzulande und anderswo erstehen im Bild. Die Künste der Leichathletik, die Aufregungen des Boxkampfes, Laufen, Springen, Geräteturnen, Florettfechten, Rudern – wer zählt die Völker, nennt die Namen? Auch auf die praktische Verwendbarkeit sportlicher Fertigkeiten im Alltagsleben wird hingewiesen. Ein guter Schwimmer kann den Ertrinkenden bergen, und ein Jiu-Jitsu-Jünger wird der Räuber Herr.


Die sinnfällige Durchgestaltung der Bilder ist der Filmregie Wilhelm Pragers zu danken, der nach einem Manuskript Dr. Nicholas Kaufmanns gearbeitet hat. Die von ihm geschickt herangezogenen Trickaufnahmen machen in manchen Fällen einen langen erläuternden Text überflüssig, und die ausgiebige Verwendung der Zeitlupe dient nicht nur dem genauen Studium der für gewöhnlich unsichtigen Bewegungsphasen, sondern hat auch eine ästhetische Berechtigung. Wo sie in Kraft tritt, fliegt der Springer und der Tänzer schwebt, die Sekunden werden auseinander gezogen, und man erblickt nun wirklich die vielen Positionen, aus denen die Einheit der Bewegung sich bildet. Wundersame Konfigurationen der Gliedmaßen entschleiern sich bei diesem Schneckengang durch die Zeit.

Nicht alle Bilder sind gleichmäßig geglückt. Was vorab ihre Zusammenstellung betrifft, so ist sie zwar bunt, aber nicht durchaus organisch. Manches wird hineingestopft, was auch ebenso gut an anderem Orte hätte auftauchen können, die Bildmassen quellen mitunter tektonisch ungebändigt hervor. Aus Gründen der Belehrung und zur Füllung des Ganzen hat man geglaubt, auf historische Reminiszenzen nicht verzichten zu dürfen, ist indessen der mit solchen Beschwörungen gerade im Film verbundenen Gefahr nicht immer Herr geworden. Mit der Wiedergabe einer antiken Palästra mag man sich noch abfinden, und daß sich, wie in Shakespeares "Wintermärchen", die antike Marmorgestalt einer Venus belebt, entbehrt nicht des Reizes. Aber die alten Germanen, die einem Roman Felix Dahns entsprungen scheinen, sind gestelltes Theater, und die römische Bade-Szene gar wäre überhaupt besser unterblieben, da sie einen Ton hineinbringt, der zu dem Ganzen nicht paßt.

Dieser Schönheitsfehler ungeachtet, ist der Ufa-Film seiner Absicht und seiner Ausführung nach gleich verdienstlich. Ist auch leibliche Tüchtigkeit gewiß nicht das höchste Gut, so ist sie doch ein wesentlicher Teil des richtigen Menschen. Der Film sollte darum die deutschen Großstädte durchwandern und den Schulen zumal vorgeführt werden.

Siegfried Kracauer: Werke. Band 6. Kleine Schriften zum Film. Herausgegeben von Inka Mülder-Bach. Unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel und Sabine Biebl. 3 Teilbände. © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. Alle Rechte vorbehalten. Verwendung mit freundlicher Genehmigung.

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