Berlin um die Ecke

DDR 1965/1990 Spielfilm

Berlin um die Ecke


Erika Richter, in: Ralf Schenk (Red.): Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg 1946-92. Herausgegeben vom Filmmuseum Potsdam. Berlin: Henschel 1994.


Mit "Berlin um die Ecke" wollten Gerhard Klein und Wolfgang Kohlhaase an ihre drei Berlin-Filme der fünfziger Jahre anknüpfen – Arbeitstitel war "Berlin Kapitel IV" – und sich gewissermaßen von "der Ecke" verabschieden, was heißen sollte, daß sie nun älter geworden und dabei waren, dem Lebensmaterial der Ecke als Synonym für Treffpunkt der Jungen zu entwachsen. Zugleich ging es ihnen darum, nun, da das Berliner Alltagsleben nicht mehr von der alles überschattenden offenen Grenze bestimmt wurde, die Konflikte junger Leute zu beschreiben, ihre spezifischen Schwierigkeiten im Leben, in der Arbeit, in der Liebe. (…)

Es gibt keine dramatische Handlung, die Szenen sind lose miteinander verbunden. Die Bilder – in Schwarzweiß – vermitteln einen sinnlichen Genuß am Rhythmus und den kleinen und großen Ereignissen des Alltags. Dieser Spielfilm ist ein genaues, stilles, tief berührendes menschliches Dokument östlichen Arbeiterlebens aus der Mitte der sechziger Jahre. Man spürt, daß den Autoren dieses Leben nahe ist. Der alte Arbeiter, abweisend und aufopferungsvoll zugleich, von Erwin Geschonneck mit der ganzen Kraft seiner Persönlichkeit ausgestattet, hat etwas von einem Porträt von Kohlhaases Vater, der sein ganzes Leben in diesem Betrieb gearbeitet hat. Kohlhaase antwortete auf die Frage, warum in diesem Film die alte Generation ein solches Gewicht erhält: Es ist uns eben zu den Alten plötzlich mehr eingefallen. Über das Persönliche hinaus informierten sie sich gründlich, sahen sich zum Beispiel vor den Dreharbeiten Dokumentarfilme, etwa Jürgen Böttchers "Stars" (1963) und "Ofenbauer" (1962), an.

Da sie sich im Arbeitermilieu bewegten, dachten sie – genau wie Frank Beyer –, daß ihr Film auch nach dem 11. Plenum eine Chance hätte. Kohlhaase: "Wir hatten durchaus mit einer kontroversen Diskussion gerechnet, aber mit einer orientierenden, in die Realität eingreifenden Diskussion, nicht mit einer Negierung des ganzen Films."

Doch "Berlin um die Ecke" wurde komplett abgelehnt. In einer Stellungnahme der Abteilung Filmproduktion der HV Film vom 29. September 1966, unterzeichnet von Dr. Franz Jahrow, heißt es, daß dieser Film mit am eindeutigsten die auf dem 11. Plenum kritisierten Positionen einnimmt. Er unterstelle einen Generationskonflikt, an dem die Älteren schuld seien. Wörtlich heißt es unter anderem: "Dummheit und Arroganz, besonders der Vertreter der älteren Generation, kapitalistische Unmoral, Verindividualisierung des Menschen, fehlende kollektive Beziehungen, Oberflächlichkeit der Gefühle, Anarchismus in der Arbeit, Unfähigkeit Verantwortlicher, Egoismus (der Hausbewohner, des Ehemanns der Freundin Olafs), Gewinnsucht, Unehrlichkeit, Betrug, Doppelzüngelei und ähnliche "menschliche Eigenschaften" beherrschen in diesem Film, der vorgibt, unsere sozialistische Wirklichkeit nachzuzeichnen, das Bild." Darin liege seine "verlogene und antisozialistische" Aussage. Das Bild vom Menschen unserer Zeit werde "herabgewürdigt", die Grundhaltung sei "pessimistisch und subjektivistisch", er enthalte sich jeder Parteinahme. Das Papier endet: "Die großzügigen Möglichkeiten, die die Studioleitung angeboten hatte, den Film konzeptionell zu ändern (im Sinne der auf dem 11. Plenum geübten Kritik) wurden überhaupt nicht wahrgenommen. Hierin zeigt sich, daß sich die Schöpfer des Films bis zuletzt uneinsichtig gegenüber der Kritik gezeigt haben, die auch an ihrem Film geübt wurde und die sie spätestens bei der Auseinandersetzung um den Film "Spur der Steine" hätten begreifen müssen.

Der Film wurde im Zustand des Rohschnitts, also ungemischt, ohne Musik, abgebrochen und eingelagert. 1990 wurde er dann beendet, und zwar so, daß – wie Kohlhaase sagte – die Wunden seiner Entstehung deutlich sichtbar bleiben sollten.

Rechtsstatus