Manila

Deutschland 1998-2000 Spielfilm

Manila

Romuald Karmakars neue kinematographische Studie in Klaustrophobie



Georg Seeßlen, epd Film, Nr. 7, 02.07.2000

Um es gleich vorwegzunehmen: "Manila" gehört nicht zu meinen Lieblings-Karmakar-Filmen. Das liegt wohl am Sujet, am Text, an den Charakteren. Aber es liegt nicht an der ästhetischen Methode dieses Regisseurs, die eben anders, zumeist interessanter funktioniert als es gewöhnlich zwischen einem Sujet und seiner Verfilmung der Fall zu sein pflegt. Eine kurze Inhaltsangabe und ein Teil der Besetzungsliste könnten uns dazu verführen, von "Manila" eine Art von verschärftem Man spricht deutsch zu erwarten: Spott, Grauen und ein klein wenig Mitleid mit dem hässlichen Deutschen auf großer Fahrt in "seinen" Ferienparadiesen.

Eine Gruppe von Touristen, man kennt die Situation, sitzt auf dem Flughafen von Manila fest, weil das Flugzeug wegen irgendwelcher Mängel nicht starten kann. Beinahe automatisch, ohne weiteres Zutun von außen, ergibt sich ein Ineinander von Klaustrophobie und Krise, anarchischem Ausbruch und rüder Regression. Und in diesem Fall implodiert, was möglicherweise direkt oder indirekt erst zu der Reise geführt hat, eine erotische Sehnsucht, ein Begehren, was sich immer mehr in Gier verwandelt, je mehr es ins Leere läuft. Viele Geschichten also, die sich treffen, verstärken, verzerren; short cuts der Selbstdarstellungen, der Verführungen, der Aggression.

Der Autor Bodo Kirchhoff und Romuald Karmakar führen ein "Menschenorchester" in den wenigen, aber scharf konturierten Räumlichkeiten des Flughafens vor: Soli, Duette, kleine Besetzungen, Tutti, piano und forte, Arie und am Ende ganz buchstäblich der schmetternde "Chor der Gefangenen von Manila". Jede dieser Personen-Stimmen hat seine Tonlage und sein Volumen – bliebe man auf der rein narrativen und psychologischen Ebene, könnte man wohl auch vom Klischee sprechen: der Lebenskünstler, die Verklemmte, der Ausbrecher, der Schwabe und die Toilettenfrau. Alle diese Personen-Instrumente sind zwar exakt gegeneinander abgegrenzt, aber keineswegs zu Ende erklärt. Sowohl dem kollektiven als auch dem individuellen Verhalten bleibt etwas durchaus Rätselhaftes. Was kann man mit einer nicht berechneten Zeit, mit einer Zeit außerhalb der Zeit anfangen? Man kann Beziehungen anknüpfen, man kann sich Geschichten erzählen, trinken und vielleicht auch Streit suchen, ein Objekt für die aufgestauten Emotionen. Vielleicht sucht ein solches Menschenorchester auch nach einem Dirigenten. Für eine kurze Zeit scheint es denn auch gebändigt während des eigentlich höchst undramatischen Auftritts von Eddi Arent, der freilich in seinem improvisierten Mörderspiel auch schon wieder Spiegel der verletzten Innenwelten seiner Zuschauer wird.

Karmakar, das kennen wir von seinen Filmen, versucht nicht, einen Text "filmisch aufzulösen". Seine Filme reagieren stattdessen auf diese Vorgabe, lassen das Andere in gewisser Weise unangetastet, um selbst einen eigenen Zugang dazu zu finden. Der Film und das, was er "zum Inhalt" hat, lösen sich nicht ineinander auf, sondern entwickeln ein dialogisches Verhältnis zueinander. Es geht in "Manila" also nicht um die satirische Abbildung einer alltäglichen Situation, es geht zunächst einmal um einen literarischen Text und um Schauspieler, die sich sehr intensiv damit beschäftigt haben, und um ein adäquates Bühnenbild dazu.

Nach den Regeln des psychologischen Realismus verhalten sich einige der Figuren höchst verdächtig, ja unglaubwürdig. Natürlich, könnte man meinen, sie verhalten sich wie Figuren auf der Bühne eines modernen Theaters! Aber auch das trifft nicht ganz zu; wenn ihre Trivialität hervortritt, dann wird das nicht notwendig wieder das Thema, metaphysische Trivialität sozusagen. Karmakar baut in seine Arbeiten Zeit-Fallen auf, wie es nur das Kino kann. Das Kino kann mit dem Kamerablick dort insistieren, wo noch die gewagteste Theater-Inszenierung unter dem Diktat der Realzeit allenfalls Bedeutsamkeit erzeugen kann. Wie nahe ist eine Kamera einem Menschen, wie lange schaut sie hin, wann sucht sie eine andere Position? Die Kino-Kunst, mit der Karmakar auf die Figuren und auf den Text reagiert, ist fundamental.

Tatsächlich ist Zeit das filmische Thema von "Manila". Zeit, die einem als großartige Möglichkeit geschenkt wird (bei gleichzeitiger Verknappung des Raums), und Zeit, die einem als qualvolles Opfer auferlegt ist. Wie lange bleibt die Kamera auf dem Tanz von Franz, dem schwäbischen Frührentner und Mercy, der Toilettenfrau, mit seinem kleinen Versprechen von Glück und Harmonie, und genauso insistent bleibt sie auf der peinvollen Szene, in der er einen mittleren Tobsuchtsanfall hat, während sich in der Toilettenkabine Herbert von seinem sexuellen Überdruck zu befreien versucht. Auch der Auftritt von Eddi Arent ist an der Oberfläche so anrührend wie pointenlos und ist doch seinerseits ein Essay über Zeit, auch über Kino-Zeit.

Während die Zeit also gewissermaßen ihre verlässliche Dramaturgie verliert, die Menschen versuchen, sich in diesem Zeit-Überfluss einzurichten, aber dabei auch ihre Form verlieren, tritt der Raum umso schärfer hervor, verliert nach und nach alles Beiläufige, wird Bühne und Gefängnis, und der Würgeengel schleicht unerkannt durch die Flughafen-Architektur, in der sich jeder seinen Platz gesucht hat: in der Toilette, im Warteraum mit seinen Stuhlreihen, in der Bar mit der Versuchung zur Auflösung oder im Restaurant mit seiner ordentlichen Kommunikationsstruktur.

Der Verdruckste und der Lebenskünstler beginnen schließlich, nach einer Anzahl von Drinks, den Chor der Gefangenen von Manila; das Nabucco-Thema wird mit einer einzigen, endlos wiederholten, trivialen Text-Zeile versehen: "Polizeistunde kennen wir nicht." Natürlich steckt darin die Möglichkeit, die Gefangenschaft als Freiheit zu verstehen, und für den Unbedeutendsten wird die Situation zur größten Bühne. Nach und nach fallen alle in diesen Chor ein, die Situation wird zu einem Karneval, eine Art Gegen-Chor bildet sich, "Oh du schöner Westerwald." Beinahe hätte man überhört, dass die Heimreise endlich angetreten werden kann. Alle machen mit, nur einer nicht, und was der am Ende tut, ist auch mehr als eine kabarettistische Pointe. Das letzte Bild zeigt die Passagiere in Frankfurt, wie sie das Flugzeug verlassen. Es ist ziemlich kalt.

Die multi-character-Situation löst Karmakar nicht, wie Robert Altman beispielsweise, in eleganten Bewegungen der Kamera auf, sondern indem er den einzelnen Figuren Räume zuordnet, Räume in denen sie aus sich heraus- gehen und solche, in denen sie in sich zurückfallen, Räume, die zueinander offen, aber dennoch voneinander getrennt sind. Wenn es bei Altman um das Verbindende geht, dann bei Karmakar um das Trennende.

Wie sehr ich diese Komposition von Raum und Zeit schätze, so große Probleme habe ich mit dem Gegenüber, mit Kirchhoffs Texten, mit seiner Menschen-Konstruktion. Entweder geht er in seiner Denunziation zu weit und zeigt dabei intellektuelle Überheblichkeit gegenüber seinen Kleinbürgerhelden, die er auch durch die krause Poesie mancher Szenen und jenes Nicht-zu-Ende-Erklären nicht wieder gut machen kann. Was immer in diesen Texten und (damit) in den Bildern stecken mag, Liebe ist nicht dabei. Oder er geht nicht weit genug, weil er das Groteske der Klasse selbst unterschlägt und seinem Menschenorchester nicht den Umschlag vom "schrägen" Musizieren zur kenntlichen Dissonanz erlaubt. Im ersten Fall mangelt es ihm an Liebe, im zweiten an Wut.

Und da wird vielleicht klar, was Karmakars cineastische Methode unabdingbar benötigt: ein Gegenüber, das Zärtlichkeit oder Zorn schon in sich trägt. Anders als, sagen wir, Flaz in "Demontage IX" ist Kirchhoff in seinem Text zu keinem Selbstopfer bereit. Daher wird dieser Film, der so viel mehr sein könnte, wohl nur kabarettistisch gelesen. Oder unter seinem Motto eben: Wie du in der Welt herumkommst, du bleibst immer ein Schwein. Das freilich wäre sogar noch für einen wesentlich schlechteren Film zu wenig.

Rechtsstatus