Nosferatu - Phantom der Nacht

BR Deutschland Frankreich 1978 Spielfilm

Zeit der Vampire

Ein Regisseur beschwört die Gespenster von Weimar



Hans-Christoph Blumenberg, Die Zeit, 12.01.1979
"Nirgends wird der Zwiespalt, dem die deutsche Seele so leicht verfällt, so offensichtlich als in jenen Märchen, die, wie Tierck sagt, geschaffen wurden, um die ungeheure Leere und das furchtbare Chaos durch mannigfaltige Gestalten zu bevölkern. In Deutschland macht der horror vacui einem neuen Grauen Platz, dem wie einst das Märchen der Romantiker die Filmkunst Nahrung zu geben weiss."
Lotte H. Eisner in "Die dämonische Leinwand"
In Paris droht er in diesen Tagen von vielen Plakatwänden, der Blutsauger mit dem mächtigen, kalten, kalkweißen geschminkten Schädel und den übergroßen, spitzen Fledermausohren: Nosferatu, die berühmteste Schreckensgestalt des deutschen Film-Expressionismus der zwanziger Jahre, neben den Doktoren Caligari und Mabuse die Leitfigur des Kinos von Weimar und seinen Ahnungen kommender, realer Katastrophen. 1922 schuf Friedrich Wilhelm Murnau, "der größter Filmregisseur, den die Deutschen gehabt haben" (Eisner), sehr frei nach Bram Stokers "Dracula"-Roman, diesen fürchterlichen Sendboten des Todes, der aus seinem Schloss im fernen Transsylvanien die Pest nach Bremen trägt und nur durch die selbstlose Liebe einer Frau vernichtet werden kann.

57 Jahre später geht ein neuer Nosferatu um, noch mächtiger, todbringender als der von Murnau, nicht einmal mehr durch ein Liebesopfer aufzuhalten. Zwar verendet auch dieser Vampir im ersten Licht des Morgens im Bett der Schönen Lucy Harker, doch Jonathan, deren Mann sich nach seiner Reise in die Karpaten selbst in einen der Untoten und Menschensauger verwandelt und bringt das Unheil nun über die ganze Welt. Ganz zum Schluss reitet er eilig durch einen Sandsturm davon, nicht mehr aufzuhalten von einer Bürgerschaft, die die Gefahr viel zu spät erkannt hat.

Werner Herzog hat diesen neuen Nosferatu erfunden, ein Regisseur, der sich, mehr als alle anderen neuen deutschen Filmemacher, als Erbe der großen Tradition der zwanziger Jahre versteht, des "legitimen deutschen Kinos", das erst mit seiner Generation würdige Nachfolger fand. "Nosferatu – Phantom der Nacht" (Murnaus Film nannte sich im Untertitel "Eine Symphonie des Schreckens") ist der Versuch, eine Verbindung herzustellen zwischen den verschollenen, ausgewanderten, vertriebenen Vätern und den geschichtslosen, ihrer Traditionen beraubten Enkeln: eine Erinnerungsarbeit also, ein äußerst waghalsiges Unternehmen, das in dieser Form nur in Deutschland möglich erscheint. Keiner der jungen amerikanischen oder sowjetischen Filmemacher, die mit ungebrocheneren Traditionen umgehen als den unsrigen, kämen wohl auf den Gedanken, eine neue Version von "Birth of a Nation" oder "Panzerkreuzer Potemkin" herzustellen, sich an dem Unwiederholbaren messen zu wollen.


Herzog hält Murnaus "Nosferatu" für "den wichtigsten Film, der je in Deutschland gedreht wurde", und er nimmt diese Herausforderung an. Über weite Strecken folgt sein "Nosferatu", dem von 1922 bis in szenische Details, auch wenn manche Namen und Schauplätze geändert worden sind: Bei Herzog spielt der Film nicht in Bremen, sondern in Wismar (gedreht wurde in Delft), Nina Harker heißt Lucy, aber diese Veränderungen fallen kaum ins Gewicht. In vielen Sequenzen meint man, Murnaus "Nosferatu" zu sehen, in einer Tonfilmfassung und in Farbe. Dekors wie das hanseatische Kontor, von dem aus der unheimliche Makler Renfield seinen Angestellten Jonathan Harker auf die verhängnisvolle Reise nach Transsylvanien schickt, oder das Wirtshaus, in dem Harker, von den Eingeborenen gewarnt, seine letzte Nacht vor dem Aufbruch in Nosferatus Schloss verbringt, sind dem Original direkt nachempfunden. Selbst beiläufige Erfindungen Murnaus (die kleine Katze, die mit dem Medaillon von Nina/Lucy spielt; die Uhr mit dem mechanischen Sensenmann, der die Stunden schlägt) kommen bei Herzog wieder vor. Manche Einstellungen hat er sogar genau kopiert: Ninas bangendes Warten auf einer Düne am Meer, von Kreuzen umgeben; die Ankunft des Gespensterschiffes, das sich langsam von rechts ins Bild und in den leeren Hafen schiebt.

Doch glücklicherweise ist Herzogs "Phantom der Nacht" viel mehr als ein bloßes Remake von Murnaus "Symphonie des Schreckens", nicht nur eine respektvolle Rekonstruktion, sondern eine Interpretation, in die Herzogs eigene Welterfahrung eingegangen ist, bis hin zum apokalyptischen Finale, in dem sich der naiv abenteuerlustige, später kranke, verstörte Bürger Jonathan Harker (dessen Wandlungen Bruno Ganz beeindruckend darstellt) als tückisches Monstrum entpuppt. Bei Murnau herrschte am Ende wieder Ruhe im Lande, wurden die Risse nur angedeutet, die nun bei Herzog machtvoll aufbrechen, zumal in jener Sequenz, in der die vom Tode schon gezeichneten Menschen der Stadt auf dem Marktplatz ein verzweifeltes, orgiastisches Fest feiern: umgeben von Schweinen, Ziegen, Schafen und Tausenden von Ratten, die als einzige überleben, sich über die üppig beladenen Tafeln hermachen. In diesen letzten Momenten einer sterbenden Zivilisation herrscht eine seltsame Fröhlichkeit unter den Bürgern, die ihren Tod als eine Befreiung zu empfinden scheinen. Eine Runde von Zechern fordert die umherirrende Lucy Harker zum Bleiben auf: "Wollen Sie mit uns trinken? Seien Sie unser Gast. Wir haben alle die Pest. So ist jeder Tag, der uns bleibt, ein Fest."


Hier, in der stärksten Sequenz seines Films, geht Herzog weit über Murnau hinaus, formuliert einen radikalen Fortschritts- und Zivilisationsekel, der durchaus an den von Pier Paolo Pasolini in den "Scritti Corsari" erinnert. Elftausend Ratten überfluten die Stadt (sehr zum Leidwesen der Bürger von Delft übrigens, die dem Treiben von Herzogs Team mit zunehmender Feindseligkeit begegneten), und der Arzt Dr. Van Helsing, bei Bram Stoker und in fast allen "Dracula"-Filmen ebenbürtiger Gegenspieler des Vampirs, wird, als Mörder des vermeintlichen Wohltäters aus Transsylvanien, von den letzten Überlebenden ins Gefängnis abgeführt. Aber es ist niemand mehr da, der ihn bewachen könnte.

Auch die Figur des Nosferatu hat Werner Herzog entscheidend verändert. Der blutsaugende Graf aus den Karpaten ist keine undifferenzierte, erbarmungslose Terrorgestalt mehr, wie sie Max Schreck 1922 für Murnau spielte, auch kein mondäner "Prince of Darkness", wie ihn Christopher Lee in den englischen "Dracula"-Filmen von Terence Fisher kreierte. Herzogs Nosferatu betreibt sein schreckliches Geschäft fast mit Widerwillen, wie ein Triebtäter der sich vor seinen eigenen Obsessionen fürchtet. Er wirkt weniger majestätisch als jammervoll, gehetzt, verloren: einer, der endlich Ruhe finden will, sterben möchte, aber nicht sterben darf. "Zeit, das ist ein Abgrund, tausend Nächte tief." Und wenn er endlich daliegt, zusammengekrümmt wie ein Fötus, tut er einem beinahe leid.

Klaus Kinski spielt Nosferatu/Dracula, und er beherrscht diesen Film wie er schon Herzogs "Aguirre, der Zorn Gottes" beherrscht hat: nicht nur seiner bizarren Maske wegen, die ihm während der Dreharbeiten eine japanische Make-up-Künstlerin jeden Morgen vier Stunden lang herrichtete, sondern mehr noch wegen seiner Traurigkeit, seiner von dämonischen Gesten kaschierten Verzweiflung, seiner mühsam unterdrückten sexuellen Gier. Er ist auf seltsame Weise sowohl abstoßend als auch erotisch attraktiv. Selbst Lucy Harker, sein letztes Opfer, das ihn zugleich zugrunde richtet, verfällt seinem perversen Zauber, lässt sich bereitwillig von seinen Krallenhänden das Nachthemd hochschieben, genießt stöhnend den tödlichen Biss.

Die Sexualität des Vampir-Genres, die bei dem homosexuellen Murnau überhaupt nicht vorkommt, in den neueren Filmen der Gattung nur in einer sehr vulgarisierten Form, behandelt Herzog mit großer Delikatesse, lässt Einzelheiten im Halbdunkel verschwimmen, aber vermittelt dadurch um so intensiver die Wollust der Begegnung, auch wenn er sonst mit der Frauen-Figur nicht sonderlich viel anzufangen weiß. Isabelle Adjani spielt sie, meistens mit weit aufgerissenen Augen, blaß und verängstigt künftiges Unheil voraussehend. Doch von der Stärke dieser Figur, die sich als einzige gegen den Vampir stellt, lässt sie kaum etwas ahnen.


Das deutsche Kino der siebziger Jahre ist eines der Angst und der Krankheiten, der kaputtgemachten Emotionen und der Reisen in den Tod. Und man braucht nur an die letzten Filme von Fassbinder ("In einem Jahr mit 13 Monden"), Wenders ("Der amerikanische Freund"), Schilling ("Rheingold") und Herzog selber ("Stroszek") zu denken, um festzustellen, dass sich die Visionen immer auswegloser verdüstert haben. Es gibt kaum noch Überlebende. Und insofern scheint es nur konsequent, wenn sich die Filmemacher der Ära Schmidt auf das dunkle, pessimistische Kino der Weimarer Republik besinnen, auf die "dämonische Leinwand" und ihre abgründigen Fabeln vom müden Tod und vom letzten Mann. Fassbinder wird in diesem Jahr endlich seine Adaption von Döblins "Berlin – Alexanderplatz" drehen, dessen erste Verfilmung, 1931 von Piel Jutzi fast schon den Endpunkt der glanzvollen Kino-Epoche zwischen Caligari und Hitler markierte. Und der neue "Nosferatu" reflektiert gewiss auch aktuelle Ängste vor dem anonymen Tenor und dem sinnlosen Sterben.

Sollte sich hier indessen ein Neo-Klassizismus abzeichnen, so muss man wohl eines Tages um die Lebensfähigkeit dieses Kinos fürchten. Herzogs "Nosferatu", ein Film mit faszinierenden Sequenzen und einigen großen, überwältigenden Augenblicken, gehört dennoch nicht zu den bedeutendsten Filmen dieses Regisseurs. Manchmal scheint es, als sei die Nähe zu Murnau eher erdrückend als beflügelnd gewesen, als habe es Herzog nicht riskieren wollen den klassischen Stoff mit seiner eigenen poetischen, visionären Kraft zu beschädigen. So bleiben manche, Murnau nachempfundene Sequenzen im bloß Dekorativen stecken, verhindert die Ehrfurcht vor einem alten Meisterwerk die Schaffung eines neuen.

Immer dann, wenn Herzog seinen eigenen Erfindungen und Erregungen traut, wenn er sich aus dem übermächtigen Schatten von Murnau löst, gewinnt "Nosferatu" die Qualität von Filmen wie "Jeder für sich und Gott gegen alle" und "Stroszek": in der Eröffnungssequenz zum Beispiel, unruhigen Kamerafahrten vorbei an grotesken Mumien, die Herzog in Mexiko fand, oder in dem leitmotivischen Signalbild eines blau eingefärbten, alptraumhaft verlangsamten Fledermaus-Fluges. Oder in jener schon beschriebenen Schluss-Einstellung vom Aufbruch des unsterblichen Bösen. Und zumal in der langen Sequenz über das Wüten der Pest und den verzückten Untergang einer ganzen Stadt (was bei Murnau nur als Mauerschau vorkommt), die endlose Prozession der Sargträger, feierlicher, schwarzgewandeter Gestalten, über den menschenleeren Marktplatz im Morgengrauen.

"Nosferatu" ist eine deutsch-französische Koproduktion, in der auch Gelder der amerikanischen Fox stecken. So erlebt dieser deutscheste aller deutschen Filme seine Premiere nächste Woche in Paris. Zu uns kommt "Nosferatu" im April.

© Hans-Christoph Blumenberg

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