Identity Kills
Identity Kills
Claus Löser, film-dienst, Nr. 7, 01.04.2004
Das Haar der jungen Frau auf dem Mittelstreifen der Hauptstraße wirkt durchnässt, angeklatscht, als hätte sie eben geduscht oder wäre von einem Regenschauer überrascht worden. Es hat aber nicht geregnet. Ihr Gang durch die Berliner Betonschneisen ist unsicher: mal zielstrebig, dann wieder schwankend oder dem Stillstand nahe. In einem Warenhaus lässt sie sich unnütze Artikel zeigen, driftet beim Betrachten einer gläsernen Schildkröte weg, scheint ihr Anliegen – wenn es je eines gab – vergessen zu haben. Nach wenigen Augenblicken wird klar: diese Frau bewegt sich auf sehr dünnem Eis, droht jeden Moment jene unsichtbare Folie zu durchstoßen, die ihr Anderssein von der so genannten Normalität ringsum trennt. Ihre nüchternen Koordinaten: Karen Lohse, Jahrgang 1976, Abitur, ohne Ambition auf ein Studium. Eine Botticelli- Schönheit: filigran, zerbrechlich, akut bedroht, endgültig der Wirklichkeit abhanden zu kommen. Ihre Unbehaustheit wird konkret, als sie nach kurzer psychiatrischer Behandlung nach Hause zurückkehren will und dort von ihrem Freund Ben mit den Worten begrüßt wird: "Ach, richtig, du wohnst ja hier." Eine Sara hat inzwischen ihre Position eingenommen. Ben veranstaltet Partys, behandelt Karen geringschätzig, bestenfalls für Küchenarbeit tauglich. Doch Karen verfügt über genügend Energie, um sich gegen den Lauf der Dinge zu stemmen. Sie wirft Ben raus, versöhnt sich wieder mit ihm, heiratet ihn sogar, erlebt neue Katastrophen. Schließlich durchbricht sie den Kreislauf der Enttäuschungen und holt zum Gegenschlag aus.
"Identity Kills" – nach "Tolle Lage" (fd 34 890) der zweite Langfilm des dffb-Absolventen Sören Voigt – ist ein Glücksfall fürs junge deutsche Kino. Mustergültig in seiner verknappten Exposition, in seiner Erzählweise insgesamt extrem ökonomisch, lässt der Film seinen Figuren und Zuschauern gleichzeitig große Freiräume und zeigt damit, dass er beide Parteien ernst nimmt. Zustände von Kommunikationsverlust, Einsamkeit oder Aggressivität erfahren unter Ausschluss naheliegender Strickmuster eine präzise Zeichnung. Dies braucht alles nur einige Augenblicke. Kleine Gesten und Bewegungen reißen oft eine ganze Bandbreite von Emotionen bzw. Emotionsdefiziten auf. So präzise Spiel und Inszenierung, so authentisch wirken Dialoge und Setting. Voigt arbeitet diametral zu der von Romuald Karmakar in "Die Nacht singt ihre Lieder" (fd 36 368) praktizierten Methode. Statt statuarischer Worthülsen und Einstellungen, die Sprachlosigkeit plappernd behaupten, schafft er hoch aufgeladene Spannungsfelder des Gesagten und Ungesagten, des Gezeigten und Versteckten. Karmakar huldigt einem missverstandenen Minimalismus, Voigt organisiert sein Material kontrapunktisch. Seine Tugend formuliert sich in erzählerischem Understatement – statt zu stapeln, schichtet er. Die dadurch freigesetzten Subtexte emanzipieren die Geschichte auf fast wundersame Weise von ihren genre-immanenten Untiefen. Zunächst durchläuft die fragile Heldin eine Reihe anekdotisch strukturierter Kapitel. Sie taumelt durch Spiegelfluchten einer sich feindlich artikulierenden Umwelt, an die keinerlei Annäherung möglich scheint. Ihre Versuche, sich anzupassen, führen alle zum Gegenteil; gerade dadurch wird sie immer wieder auf ihr Krankheitsbild zurück geworfen. Karens Eigentherapie setzt in dem Moment ein, als sie die Simulation zum bewussten Handlungsprinzip erklärt. Ihre Affirmation erfolgt durch ein eigenhändig ausgeübtes Verbrechen. Darin liegt die eigentlich subversive Botschaft ihres Tuns – und auch die des Films: Als Kranke erscheint Karin für ihre Umwelt erst dann gesund, wenn sie die Verhaltensmaßregeln der Normalität annimmt und auf die Spitze treibt. Ihre zunächst lediglich fixe Idee von der Dominikanischen Republik wird zum Motor einer immensen kriminellen Energie, der kaum mehr zu stoppen ist. Indem Karen zur erfolgreichen Hochstaplerin avanciert, erfüllt sie eine allgemein akzeptierte Funktionalität. Krankheit sublimiert sich durch Verbrechen zu Erfolg. Die damit einhergehende Gesundung ist nur eine scheinbare – aber unterscheidet sich die "Heldin" darin so sehr von ihrer Umwelt? Identität tötet, wie der Filmtitel sagt. Leben kann Karen erst, indem sie anonym wird und Identitäten auslöscht; ihre eigene ebenso wie die der unglücklichen Frau, in deren Hülle sie schlüpft. In dramaturgischer Hinsicht wird der Krimi-Plot erst in der letzten Phase des Geschehens wirksam, fügt sich aber durch seine frühzeitige Anlage harmonisch in das sonst eher epische Gesamtkonzept. Es stört keineswegs, dass Karens Abreise in die Karibik kaum eine Perspektive aufzeigt. Wichtig bleibt ihre makabre Metamorphose vom kranken Opfer zum gesunden Täter.
"Identity Kills" kommt ohne große Namen aus, wurde mit geringem Budget realisiert. Voigt hat einen kleinen, substanziell sehr reichen Film gemacht. Man wünschte sich in der deutschen Filmlandschaft mehr derartige Harmonie von Effizienz und Understatement.