Bockshorn

DDR 1983/1984 Spielfilm

Die Legende vom verlorenen Schulzengel



Fred Gehler, Film und Fernsehen, Berlin/DDR, Nr. 5, 1984




In einer frühen Erzählung hat Christoph Meckel eine seiner Gestalten die Erkenntnis formulieren lassen: "Leben ist das allen Gemeinsame. Der Hunger, aber nicht das Brot und die Sattheit, der Durst und das Wasser, aber nicht der Wein."



Auch Mick und Sauly, die beiden halbwüchsigen Helden von Meckels erstem Roman, "Bockshorn" (1973), sind betroffen von diesen Diskrepanzen. Auch ihnen fehlt das Elementarste: Bedingungen, die es ihnen ermöglichen würden, wie Menschen zu leben. Unglück, Kälte und Rechtlosigkeit erfahren sie in Baan, einer großen Stadt des Kapitals. Dort selbst "menschlicher Müll" in den Zwängen der Dingwelt dieses Babels. Heimisch nur das Gefühl des Unbehaustseins, der Entwurzelung. Mick und Sauly fliehen ans Meer, getrieben von der Hoffnung, die Freiheit einer unbekannten. Welt zu erleben. Botnango am Meer wird zur Stätte der Verheißung, zum erstrebenden Paradies. Die Flucht der Hoffnung wird zur Irrfahrt. Sie werden ins Bockshorn gejagt, jagen bald einem Phantom nach, dem angeblich verlorenen und verkauften Schutzengel Saulys. Dieses Trauma determiniert die Reise zu sich selbst und führt schließlich zum tragischen Ausgang. Das poetische Gleichnis dieser Fabel drückt sinnfällig Meckels Inspiration zum Schreiben aus: "Weil ich Gerümpel wegschaffen, Trugbilder einreißen und an ihre Stelle das Lied vom Ungenügen setzen will, das Lied von der Unruhe, vom Zorn und von den Verwüstungen durch die Zeit."



Ich meine, es ist nicht schwer, die Versuchung und stoffliche Herausforderung zu ahnen, die "Bockshorn" sowohl für Frank Beyer als auch für Ulrich Plenzdorf bedeutete. Gerade im Kontext mit eigenen vorangegangenen Arbeiten, mit eigenen dominierenden Motiven. Bei Frank Beyer etwa das Prinzip Hoffnung im weitesten Sinne. M. E. auch die dialektische Entsprechung zu "Jakob der Lügner". Hier hilft eine Lüge leben, in "Bockshorn" erschüttert eine Lüge die menschliche Integrität. Auch die emotionale und geistige Heterogenität von Meckels Roman – das Nebeneinander von Komischem und Tragischem, von Absurdem, Realem und Märchenhaftem – hatte ihre Verführungen und Verlockungen. Plenzdorfs Neigung zu Geschichten voll poetischer Allegorien ist eine Binsenweisheit. Hinzu kommt seine Nähe zu Fabeln, in denen äußere (geographische) Bewegung innere Bewegungsprozesse auslöst, verursacht oder zumindest beziehungsreich tangiert. Das Motiv der Reise, der Fahrt. Das Entdecken der Welt mit der Sonde der heranwachsenden Generation, Verfremdung durch die Psyche derer, die noch alles vor sich haben.



Diese hier nur kurz zu skizzierende innere Beziehung zu der literarischen Imagination Christoph Meckels wird im Film ohne Zweifel transparent und macht für mich einen nicht unerheblichen Reiz der Adaption aus. Behutsam wird die Erfahrung von Mick und Sauly zum Spiegel gemacht. Sie werden in ihrer Weltsicht nicht überfordert noch didaktisch korrigiert. Die damit zwangsläufig verbundenen Reduktionen, die natürliche Einengung des Horizonts, stimulieren die Phantasie des Zuschauers. Er sieht sich herausgefordert durch den verführerisch sinn­fälligen Lakonismus manch einschichtiger Einsicht. (…)



Die emotionale Identifikation mit den beiden Helden bedeutet jedoch nicht die Übernahme ihrer Perspektive. Beyer und Plenzdorf gewinnen durch diese Differenz eine interessante Vieltönigkeit, schaffen eine zusätzliche Dimension für Reibungen und Impulse. (…)

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