Nachttanke

Deutschland 1998/1999 Dokumentarfilm

Nachttanke

Eine Tankstelle als Bühne für Samir Nasrs Dokumentarfilm


Raimund Gerz, epd Film, Nr. 6, 02.06.2000


"Wer nicht bei Tage gehen darf, schleicht bei Nacht." Mit diesen Shakespeare-Worten als Motto und dem Insert "Deutschland im Sommer 1998" hängt Regisseur Samir Nasr den metaphorischen Anspruch seines Dokumentarfilms ausgesprochen hoch. Schauplatz ist eine BP-Tankstelle irgendwo in einem Ludwigshafener Industriegebiet, rund um die Uhr geöffnet. Der Regisseur hat den poetischen Charakter des Ortes als eine Bühne für Menschlich-Allzumenschliches erkannt: "Die Tankstelle ist ein melting pot der besonderen Art. Nachts schwemmt es die Einsamen, Randgestalten und Nachtschwärmer heran. Strandgut unserer Zeit", raunt es aus dem Presseheft.

Das Leben – eine Tankstelle? Zumindest insoweit, als hier Sprit in jeder Form verhökert wird: eine Füllung Super bleifrei für die drei türkischen Jungs im tiefergelegten BMW, die eine kurze Rap-Einlage zum Besten geben; ein Satz Jägermeister-Flachmänner allabendlich für Frau Kade, angeblich im Auftrag der Nachbarn, für ihre eigenen (Sehn-) Süchte eine bunte Illustrierte; frisches Dosenbier für die Obdachlosen, die sich für die Nacht versorgen. Samir Nasr lässt sie in seinem Diplomfilm alle kurz zu Wort kommen. Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe, Skins und die Attacke auf den französischen Polizisten in Lens sind flüchtig gestreifte Themen. Der Taxifahrer Wolfgang lamentiert und träumt vom Auswandern. Ein müder Klarinettist lässt sich noch zu einem kurzen Solo aus dem "Barbier von Sevilla" überreden. Leitmotivisch grundiert die Fußball-WM in Frankreich den Film: Deutschland – USA, Deutschland – Iran, Trauerspiele mit dem finalen Akt Deutschland – Kroatien: Ende der Vorstellung und Anlass für allerlei Fußballweisheiten von der bekannten Sorte.

Das alles ist durchaus unterhaltsam, teilweise auch von skurrilem Charme. Ob aber ein Reigen von Personen, den "der Zufall oder das Schicksal" vor die Kamera des Filmteams spülte, schon ausreicht, ein "ungeschminktes Bild von Deutschland" zu vermitteln oder auch nur "von der Stimmung im Lande am Ende der Ära Kohl" zu erzählen, wie der Regisseur es gerne hätte, steht dahin. Wenn das Zufallsprinzip die ästhetische Verdichtung ersetzt, steht am Ende auch ein eher zufälliges Ergebnis. "Nachttanke" liefert keine exemplarischen Einsichten, sondern produziert einen permanenten Wiedererkennungseffekt. Begegnen uns nicht ständig solche Figuren, und gehören wir nicht auch zu ihnen?


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