Leni

Deutschland 1993/1994 Spielfilm

Leni



Horst Peter Koll, film-dienst, Nr. 14, 05.07.1994

Irgendwo in der hintersten Ecke eines Kellers wird in tiefer Nacht ein Kind geboren. Erst später kann man mutmaßen, daß es der Keller eines Augustinerinnen-Klosters ist, jetzt aber bestimmt nur heimliche Betriebsamkeit die nächtliche Szenerie. Die alte, resolute Schwester Ludowiga, in aller Stille als Geburtshelferin tätig, lockt den Pfarrer für eine schnelle "Nottaufe" herbei, der Hauswart muß als Taufpate herhalten - ansonsten will der ordnungsliebende Herr mit allem nichts zu tun haben (eine Haltung, die ihn wenige Jahre im negativen Sinne "auszeichnen" wird). Tage später erscheint Schwester Ludowiga auf dem abseits gelegenen Einödhof des schon betagten Bauernpaares Aibele und gibt das Neugeborene in Pflege. "Besser Ihr wißt nichts von der Mutter, und die Mutter weiß nichts von Euch", sagt die Schwester. Man schreibt das Frühjahr 1937, die Idylle des Allgäus wird durch das bilderbuchhafte Sonnenwetter vervollkommnet. Probleme hat allenfalls der zunächst abweisende Aibele, der eigentlich der Opa des Kindes sein könnte. Mit seiner Nachtruhe ist es zunächst vorüber, aber schon bald schließt er das Mädchen mit Namen Leni tief in sein Herz. Daß "irgendetwas nicht stimmt", deuten zu diesem Zeitpunkt eigentlich nur einige dissonante Klänge in der Musik an.


"Leni" erzählt eine Geschichte, die sich tatsächlich in jenen Jahren zugetragen hat: Ein Pflegekind wächst bei einem älteren Bauernehepaar in schönster Harmonie heran, bis der Bürgermeister des Dorfes eines Tages die Lebensmittelkarten für die kleine Familie mit einem roten Vermerk versieht und zu erkennen gibt, daß mit dem Mädchen etwas nicht stimme - "abstammungsmäßig". Der Bauer solle dafür sorgen, daß alles wieder "in Ordnung" komme. Nur einmal in Hiemers Film wird das, worum es da geht, wirklich beim Namen genannt, es entrutscht dem Bürgermeister selbst, als ihm seine Frau vorhält, er solle sich doch einmal vorstellen, wenn all dies seinem eigenen Sohn passiere. "Wieso", antwortet er entrüstet, "der ist doch kein Jud"!" Denn Lenis Mutter ist Jüdin, der Vater zwar "Arier" (und obendrein Offizier, wie Aibele erfährt), doch man kennt ihn nicht, und deshalb wird Leni als Vollwaise kategorisiert. Als sie sechs Jahre alt ist, muß sie die geliebten Eltern verlassen. Von einer kurzen Zwischenstation im Münchner Kloster der Augustinerinnen aus wird sie zusammen mit vielen anderen Kindern deportiert - nach Auschwitz. Mit den Kindern ist Schwester Ludowiga in den Untergang gefahren. "Tja, so was gibt"s auch", sinniert verständnislos der dienstfertige Hauswart, der dem zu spät kommenden Aibele die verwaisten Räume zeigt.
Leo Hiemer hat viel Zeit und Geduld investieren müssen, um das Jahrzehnte lang verdrängte Thema recherchieren und umsetzen zu können. Bei aller faktischen Akribie ist dabei schließlich alles andere als eine sachorientierte Dokumentation entstanden. Vielmehr steuert er mit großer Empfindsamkeit und unübersehbarer persönlicher Betroffenheit unmittelbar auf das emotionale Zentrum der Tragödie zu und beschreibt zuallererst die innige Liebe in der kleinen Bauernfamilie, das zutiefst empfundene Glück der Zieheltern über die späte Gnade des geschenkten Kindes. Wohl kaum könnte man sich dieses Glück schöner (inszeniert und fotografiert) vorstellen: eingebettet in den Wechsel der Jahreszeiten, das Kommen und Gehen von Schnee und Frühlingsblumen, sind Eltern und Kind ganz nahe beieinander, nichts scheint das fast archaische Idyll aus den Fugen reißen zu können. Bedrohliche Situationen stellen sich natürlich immer wieder ein, um sich aber stets wieder aufzulösen: Lenis leibliche Mutter taucht für einen Besuch auf, verabschiedet sich aber wieder und schenkt dem Aibele gar einen Fotoapparat, und der neue Dorflehrer, auf Grund seiner politischen Haltung in die tiefe Provinz strafversetzt, scheint Leni, so legt es für einen Moment die Inszenierung nahe, aufzulauern, bevor er sich als Freund und Verbündeter erweist. Doch mit den zunehmenden Vorladungen des Bürgermeisters wächst die nicht genauer zu greifende Gefahr durch eine unfaßbare Vernichtungsmaschinerie und ihre willfährigen Vollzugsbeamten. die die nationalsozialistische Doktrin bis in die letzten Winkel der Welt tragen helfen. Die Natur selbst scheint aus dem Rhythmus zu geraten, schon bald empfindet man keinen Gleichklang mehr mit ihr, vielmehr sind der Schnee im Winter, das wärmende Feuer im Küchenofen, die verlassene Schaukel an einem einsamen Baum nur noch Chiffren für den heftigen Schmerz, der durch die Erinnerungen an ein verlorenes Glück ausgelöst wird.


Im Grunde lüftet Hiemer nur ein wenig das äußerst genau beobachtete Allgäuer Lebensidyll, um um so nachhaltiger das Grauen hinter den Kulissen spürbar zu machen. An den "Rändern" der Geschichte sind es auch keine zähnefletschenden Monster, die für das Schicksal der kleinen Leni verantwortlich sind und dementsprechend schuldig zu nennen wären. Eher ist es die ahnungslose Naivität der obrigkeits- und ordnungshörigen Menschen, die sich als Handlanger der Administration objektiv "richtig" verhalten und dabei wie die Zahnräder eines nicht zu stoppenden Mahlwerkes ineinandergreifen. Das Erschütterndste dabei ist wohl die Widerstandslosigkeit der bäuerlichen Pflegeeltern selbst, die in "gutem Glauben" ihr größtes Glück fortgeben, um schließlich vor dem Nichts zu stehen - vor Dingen, die einst einem lebhaften Kind gehörten, nun leblose Materie sind, die der Bauer in einem Anfall von Schmerz unwiederbringlich dem Feuer übergibt. Hiemer tut nie so, als wenn das Kind Leni irgendetwas Besonderes (gewesen) wäre: das Mädchen ist ein Kind wie viele andere auch, aufgeweckt, neugierig, erfüllt von einem tiefen Vertrauen zu den Erwachsenen, das diese schließlich so sehr enttäuschen. Zugleich aber, das macht Hiemer in jedem Filmmeter deutlich, ist Leni genauso etwas Besonderes wie jedes Kind: nämlich ein Versprechen auf die Zukunft des Menschen und die Menschlichkeit generell, das man nicht so einfach hergeben darf. Stärker als alles andere bleibt das Bild des Kindes in Erinnerung, wenn es ahnungslos und gutgläubig aus dem Fenster des in die Stadt abfahrenden Zuges Lebewohl winkt. Die Ränder des Zugfensters sind vereist, nur die Wärme des Kindes scheint den Blick durch das Fensterglas freizuhalten.

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